Degroof Petercam | Brüssel, 15.11.2019.
„Wer glaubt, dass sein Genom in den kommenden 10 Jahren mindestens einmal sequenziert wird?“ Mit dieser Frage eröffnete DPAM eine interne Research-Sitzung über die Revolution in der Genomik. Fast die Hälfte der anwesenden Analysten und Portfoliomanager hoben ihre Hand.
Bislang wurden aber erst die Genome von weniger als 0,02% der Menschen sequenziert.
Das Genom ist der komplette Satz von Genen – also von DNA-Abschnitten. DNA kann man sich wie eine Wendeltreppe vorstellen. Die Stufen dieser Wendeltreppe bestehen aus vier verschiedenen Arten von chemischen Substanzen, den sogenannten DNA-Basen, die Wissenschaftler mit den Buchstaben A, C, T und G bezeichnen. Die DNA bestimmt, wie sich verschiedene Aminosäuren anordnen sollen, um bestimmte Proteinformen zu bilden. Sie sind die Bausteine des Lebens.(1).
Betrachtet man eine DNA-Treppe von der Seite, kann man ihren chemischen Code – bzw. die genetische Sequenz – von oben nach unten lesen. Dies ist vergleichbar mit dem Lesen eines Buches auf Molekülebene.Das sog. „Human-Genomprojekt“ erstellte im Jahr 2003 erstmals die Referenzsequenz des menschlichen Genoms. Das Projekt dauerte über zehn Jahre und verursachte Kosten von fast drei Milliarden Dollar. Und schließlich die komplette Entschlüsselung eines einzelnen Genoms kostete im Jahr 2006 etwa 20 Millionen Dollar. Dieser Preis liegt aktuell bei etwa 1000 Dollar. Es ist zu erwarten, dass die weiter voranschreitende Sequenzierungstechnologie den Preis in den kommenden Jahren noch weiter auf ca. 100 Dollar senken wird(2).
Schätzungen zufolge wurden über 90% der Sequenzierungsdaten weltweit mit Instrumenten eines einzigen Unternehmens generiert: Illumina. DNA-Sequenzierung steckt noch in den Kinderschuhen, aber Illumina erwirtschaftet bereits einen jährlichen Umsatz von knapp 4 Milliarden Euro, bei einem Gewinn von einer Milliarde Euro, während das Unternehmen 700 Millionen Euro in Forschung und Entwicklung investiert.
Insgesamt gibt es drei Milliarden DNA-Basen (A, C, T und G) in jeder der vielen Billionen Zellen des menschlichen Körpers. Erstaunlicherweise sind 99,9% der menschlichen DNA-Sequenzen identisch. Damit haben wir aber immer noch etwa drei Millionen Unterschiede zwischen unseren jeweiligen Genomsequenzen, die jeden von uns einzigartig machen. Bislang verstehen wir nur den funktionalen Wert von weniger als einem Prozent dieser Varianten des menschlichen Genoms.
Von Bevölkerungsgenomik erhoffen sich Regierungen wertvolle Informationen durch die Analyse großer Mengen von DNA-Sequenzen. So beabsichtigt „Genomics England“ beispielsweise, 100.000 Genome von Patienten mit seltenen Krankheiten und verbreiteten Krebsarten zu sequenzieren. In den USA plant das Programm All of Us, die DNA von Tausenden Teilnehmern zu sequenzieren und zu genotypisieren. Und auch China kündigte eine Präzisionsmedizininitiative an und will dafür zehn Milliarden Dollar in die Sequenzierung von Genomen und das Sammeln von klinischen Daten investieren.
Jede unserer Zellen enthält 23 Chromosomenpaare, jeweils 23 von der Mutter und 23 vom Vater. Das größte Geschenk, das Ihre Mutter und Ihr Vater ihnen je gemacht haben, sind sinnbildlich die drei Milliarden Buchstaben der DNA, die Ihr Genom ausmachen. Aber wie alles, das drei Milliarden Teile hat, ist es äußerst fragil.
Sonnenlicht, Rauchen, ungesunde Ernährung, Traumata oder sogar Ereignisse, die von selbst in einer Zelle entstehen, können zu Veränderungen Ihres Genoms führen. Die verbreitetste Art der Mutation in der DNA ist der Tausch einer Base – etwa C – gegen eine andere mit einem anderen Buchstaben – T, G oder A.
Die meisten dieser sogenannten Punktmutationen sind harmlos. Doch hin und wieder stört eine Punktmutation eine wichtige Funktion innerhalb einer Zelle. Wenn Sie diese Mutation von Ihren Eltern geerbt haben oder wenn sie in einem frühen Stadium Ihrer Entwicklung eintritt, würden viele oder all Ihre Zellen diese schädliche Mutation enthalten.
Bedauerlicherweise leiden Hunderte von Millionen Menschen unter einer Erbkrankheit. Positiv ist dabei zu nennen, dass eher diejenigen Erbkrankheiten zunehmen, von denen wir die zugehörige Punktmutation kennen, wie Sichelzellenanämie, Progerie oder Muskelschwund. Theoretisch könnte eines Tages durch das Sequenzieren einer Blutprobe nur ein einziger Test ausreichen, um einen Menschen auf tausende genetische Krankheiten gleichzeitig zu testen und schnell die Ursache eines Leidens zu ermittelt. Medizinische Eingriffe lassen sich so erleichtern.
GRAIL, ein Spin-off von Illumina, entwickelt einen Bluttest für die Früherkennung von Krebs in einem Stadium, in dem er noch heilbar ist. Heute gibt es nur für wenige Krebsarten effiziente Vorsorgeuntersuchungen, und die meisten Krebsarten werden erst in späteren Stadien erkannt, in denen die Überlebenschancen wesentlich geringer sind.(3).
Erbkrankheiten, die durch Punktmutationen verursacht wurden, sind besonders frustrierend, weil wir oft genau den einen Buchstaben der Veränderung kennen, der die Krankheit verursacht, sodass wir sie – rein theoretisch – heilen könnten. Kinder mit Progeria werden mit einem T statt einem C an einer einzigen Stelle ihres Genoms geboren. Diese unglückliche Fehlbesetzung sorgt dafür, dass Kinder so schnell altern, dass sie selten älter als 15 Jahre werden.
Unsere medizinischen Fähigkeiten reichen nicht aus, um dieses krankheitsauslösende T wieder in ein C zu ändern – noch nicht. Crispr-Cas9 ermöglicht Wissenschaftlern, gezielte Änderungen an der DNA eines Organismus vorzunehmen. CRSIPR ist ein Protein, das wie eine molekulare Schere funktioniert, um DNA zu schneiden. Erstaunlicherweise lässt sich diese Schere so programmieren, dass sie nur nach einer ganz bestimmten DNA-Sequenz sucht und diese schneidet. Auf diese Weise kann die DNA-Codierung verändert werden.(4).
In Sommer 2019 haben Ärzte in den USA zum ersten Mal diese Technologie für die Gen-Bearbeitung genutzt, um eine Frau von der Sichelzellenkrankheit zu heilen. Vor dem Eingriff war die einzige Behandlungsmöglichkeit eine Organspende, die aber nur in zehn Prozent der Fälle erfolgreich war.
Die weltweit ersten genveränderten Babys, Lulu und Nana, wurden im Oktober 2018 in China geboren. CRISPR wurde verwendet, um die DNA der Geschwister zu ändern. Gleichzeitig wurde der Versuch unternommen, sie genetisch resistent gegen den HIV-Virus zu machen. Dieses umstrittene Experiment wurde von vielen Wissenschaftlern kritisiert.
Genus, ein britisches Unternehmen, nimmt genetische Änderungen an Schweinen vor, die sie resistent gegen das „porzine reproduktive und respiratorische Syndrom“ macht, eine Schweinekrankheit, die Züchtern zufolge Kosten von jährlich drei Milliarden Euro verursacht.
Veränderungen der DNA haben sich im Verlauf der Evolutionsgeschichte durch den Prozess der natürlichen Selektion auf natürliche Weise vollzogen. Heutzutage ist es möglich, quasi nach Belieben auf kostengünstige und relativ präzise Weise DNA zu lesen und zu bearbeiten. Das ist zwar eine großartige Möglichkeit, Krankheiten auszumerzen. Jedoch müssen wir vorsichtig vorgehen, indem wir so gut wie möglich die Risiken einschätzen und uns auf die Einhaltung klarer ethischer Standards einigen.
(1)statedclearly.com
(2)Illumina
(3)grail.com
(4)Können wir Erbkrankheiten heilen, indem wir die DNA umschreiben?, David R. Liu, TED talks 2019.
Von Dries Dury, International & Sustainable equity fund manager bei DPAM