SJB | Korschenbroich, 21.05.2014. Nur noch ein halbes Prozent beträgt die Teuerungsrate in der Eurozone. Gleichzeitig erleben Anleger eine Inflation der Vermögenswerte – die lockere Geldpolitik der Zentralbanken lässt grüßen. Im Gespräch erörtern die Anlage-Experten Luca Pesarini, Georg Graf von Wallwitz und Michael Reuss die EZB-Politik, die Rolle Mario Draghis und die Zukunft Europas.
DAS INVESTMENT.com: Ende März ist die Inflation in der Eurozone auf kümmerliche 0,5 Prozent gefallen, liegt weit weg vom EZB-Ziel der 2 Prozent. Ist die Angst vor Deflation gerechtfertigt?
Georg Graf von Wallwitz: Zumindest die EZB sieht mittlerweile ein gewisses Risiko für Deflation. Das kann man aus Äußerungen von EZB-Verantwortlichen in den vergangenen Monaten schließen. Ebenso, dass sie das Risiko einer Deflation höher einschätzen als das einer Inflation. Wie groß ist das Risiko? Wir würden es bei rund 20 Prozent veranschlagen. Sicherlich ist es groß genug, um Portfolios dagegen abzusichern.
Luca Pesarini: Entscheidend ist in meinen Augen, ob man das Problem im Norden oder im Süden betrachtet. In Nordeuropa ist die Gefahr einer Deflation nicht so ausgeprägt. Die Wirtschaft läuft rund, die Arbeitslosigkeit ist gering. Im Süden dagegen ist die Deflation bereits omnipräsent. Und sie wird sich noch verschlimmern, fürchte ich. Man kann also nicht sagen, dass Deflation ein gesamteuropäisches Problem ist. Stattdessen muss man auf einzelne Länder schauen.
von Wallwitz: Die EZB definiert Deflation als eine sich selbst verstärkende Preisspirale nach unten, in einer Mehrheit der Länder oder Branchen. Derzeit erleben wir so etwas in Irland, Portugal und Griechenland. Das reicht aber nicht für eine Mehrheit. Etwa 20 Prozent der Branchen erleben fallende Preise. Und das ist wahrscheinlich das, womit man umgehen muss.
Michael Reuss: Für mich ist wichtig, herauszufinden, in welcher Phase der Entwicklung wir uns derzeit befinden. Mit einer Teuerung von 0,5 Prozent erleben wir derzeit noch eine Disinflation. In vielen Ländern der Eurozone sinkt die Teuerungsrate Schritt für Schritt. Gleichzeitig verringern die Staaten ihre Ausgaben und die Kreditvergabe sinkt.
Zudem bekommen wir derzeit Druck vom starken Euro, weil global ein Währungskrieg ausgefochten wird. So hat der japanische Yen gegenüber dem Euro um knapp 40 Prozent abgewertet. Das stellt auch deutsche Exportunternehmen vor massive Probleme.
Nehmen Sie als Beispiele den Augsburger Maschinenbauer Kuka sowie sein japanisches Pendant Fanuc. Letzteres kann seit der Yen-Abwertung seine Produkte am Weltmarkt um besagte 40 Prozent billiger anbieten. Das sind deflationäre Kräfte, die da wirken. Insofern ist die Vorsicht der EZB vor den Risiken einer Deflation begründet.
DAS INVESTMENT.com: Warum hat die EZB bisher allerdings nicht den Eindruck erweckt, dass sie in Alarmbereitschaft ist?
Reuss: Was ist das Schlimmste in einer Phase der drohenden Deflation? Doch wohl, dass alle darüber sprechen. Mario Draghi tut also gut daran, sich nicht hinzustellen und zu sagen, dass er Angst vor Deflation hat. Stattdessen muss er der Öffentlichkeit signalisieren, dass er die Deflationstendenzen für beherrschbar hält – was sie derzeit wahrscheinlich sogar noch sind.
Pesarini: Ich glaube, dass unser Hauptproblem der Währungskrieg ist. Alle gegen alle. Keine Gefangenen. Die einen haben Waffen und nutzen sie. Sie drucken Geld, setzen ein Programm namens Quantitative Easing ein. Die anderen, beispielsweise Hongkong, Singapur, die Schweiz oder Norwegen, koppeln sich an eine Weltwährung.
Andere wiederum haben keine Waffen. Ihnen bleibt das laute Brüllen, vielleicht kann man das Gegenüber damit ein wenig erschrecken und verunsichern. Mehr aber auch nicht. In einer solchen Situation befindet sich EZB-Präsident Mario Draghi. Er kann nicht wirklich etwas einsetzen. Deswegen geht er verbal vor, was 2011 bestens funktioniert hat.
Das Bizarre an der gesamten Situation ist, dass wir vor zwei Jahren noch über die Implosion des Euro und die kommende Inflation heftig diskutiert haben. Jetzt sprechen wir über Deflation. Mir scheint, dass vieles zu kurzfristig betrachtet wird. Keiner macht sich Gedanken, was aus solchen Entwicklungen langfristig folgt.
Reuss: Auch ist ein detaillierterer Blick notwendig. Unterscheiden muss man, ob man über Vermögens- oder Konsumgüterpreise spricht. Bei den Vermögenspreisen haben wir zuletzt aufgrund der Geldmenge einen inflationären Trend gesehen. Beispiel Gold. Zwar ist der Preis des Edelmetalls im vergangenen Jahr um 30 Prozent eingebrochen. Aber er ist immer noch sehr hoch. Auch bei Aktien und Immobilien, vor allem an gefragten Standorten wie Berlin oder München, gibt es eine Vermögenspreisinflation.
Eine Teuerung der Konsumgüter würde man gerne erzeugen. Das ist das Ziel der Staaten – die Inflationierung der Verbindlichkeiten. Derzeit gibt es bei Konsumgütern allerdings eher deflationäre Tendenzen.
von Wallwitz: Ich glaube nicht, dass das Ziel der Politik eine Inflation ist. Es ist nicht allzu schwierig, Inflation zu kreieren. Wenn sie gewollt wäre, würden sich in Europa längst die Preise verteuern. Stattdessen haben in der EZB die Gläubigerländer das Sagen. Und die haben kein Interesse an Inflation. Deswegen halte ich es schlicht für falsch, anzunehmen, dass die EU-Staaten oder die EZB versuchen, ihre Staatsschulden wegzuinflationieren.
DAS INVESTMENT.com: Wie sollen sie denn sonst der Schuldenfalle entkommen?
von Wallwitz: Ich halte es für wahrscheinlicher, dass es über Schuldenschnitte laufen wird. Siehe Griechenland. Da haben irgendwann alle mehr oder weniger freiwillig verzichtet. Und falls es letztendlich doch die Inflationierung sein wird, ist es wichtig, dass die Differenz zwischen der Teuerungsrate in Südeuropa und Kerneuropa relativ hoch ist.
Steigen die Preise bei uns zum Beispiel um 4 Prozent und in Italien um ein Prozent, ist alles wunderbar. Dann nimmt die Wettbewerbsfähigkeit in der Peripherie zu, und die Ungleichgewichte werden geringer. Es kommt also weniger auf die absolute Höhe der Inflation an als auf die Relation.
Reuss: Ich halte die Inflationierung für das naheliegendste Szenario. Derzeit sind die Geberländer in Europa vielleicht restriktiv. Sie wollen, dass die Sorgenkinder aus Südeuropa erst einmal ihre Staatshaushalte in Ordnung bringen. Sie wollen nicht ihr Geld in ein Fass schütten, das keinen Boden hat. Danach dürfte dann das Ziel eine gesunde Inflation sein, um die eigenen Schulden wegzuinflationieren. Von einer Hyperinflation gehe ich übrigens nicht aus.
DAS INVESTMENT.com: Wieso unternimmt die EZB bei einer Teuerung von nur noch 0,5 Prozent nichts?
Reuss: Die Teuerung ist keine Messgröße, die Sie mal eben so am Tacho einfach einstellen können. Sie ist eine Folge verschiedener Maßnahmen der EZB. Derzeitige Achillesferse in Europa ist die Kreditvergabe der Banken an den Mittelstand. Vor allem in Südeuropa läuft da nicht viel. Das ist Mario Draghis Problem.
Zuerst hat er die Großbanken großzügig mit Liquidität ausgestattet. Mit dem Geld haben die Banken dann aber Staatsanleihen gekauft. Ein wunderbares Geschäft. So hat die Unicredit italienische Staatsanleihen für schätzungsweise 50 Milliarden Euro auf dem Buch. Bei der EZB bekam sie das Geld für ein Prozent Zinsen und hat in der Spitze der Krise dafür 6,5 Prozent bei den Staatsanleihen bekommen.
Daher gibt es kein Interesse, Kredite rauszugeben, die man obendrein auch noch mit haftendem Eigenkapital unterlegen muss. Draghi muss sich also andere Wege suchen, die Kreditvergabe anzukurbeln.
DAS INVESTMENT.com: Welche Möglichkeiten hätte er?
Reuss: Asset Backed Securities wären eine Möglichkeit. Allerdings traut sich niemand, den seit der Finanzkrise verunglimpften Begriff in den Mund zu nehmen. Dennoch wird es auf etwas Vergleichbares hinauslaufen. Die Banken dürfen dann Mittelstandskredite verbriefen und bei der EZB refinanzieren.
Je weiter die Kreditvergabe sinkt und damit der Druck steigt, desto größer wird die Bereitschaft zu solchen Schritten. Die niedrige Kreditvergabe ist übrigens auch der Grund für die derzeitigen deflationären Tendenzen. Draghis jüngste Kommentare deute ich so, dass er das genauso sieht und nur noch nicht das geeignete Instrument gefunden hat.
DAS INVESTMENT.com: Herr Pesarini, welche Rolle spielt für Sie das Thema?
Pesarini: Mich interessiert das Thema Inflation eigentlich gar nicht. Ich sehe vielmehr ein Problem für Europa durch den starken Euro. Wie gesagt, vor zwei Jahren haben wir noch über den Zerfall der Gemeinschaftswährung gesprochen. Zudem treibt mich die Frage um, wie wir aus der Wachstumsmisere rauskommen können.
Die Amerikaner haben ihren Weg gefunden. Zur Abwertung der eigenen Währung kommt der Sonder-Boom der Wirtschaft durch den Erfolg des Öl- und Gas-Frackings. Dadurch konnten die USA Arbeitsplätze schaffen.
In Europa haben wir für die hohe Arbeitslosigkeit noch keine Lösung gefunden. Deutschland hat den Vorteil der Agenda 2010. Viele andere Europäer haben so etwas nicht. Da ist noch viel zu erledigen. Aber das ist natürlich nicht Draghis Problem. Die EZB kann der Politik nur Zeit schenken. Letztere muss die Rahmendaten verändern. Leider sehe ich da zu wenig in Europa. Wer braucht schon Hühnerstall-Verordnungen, wenn die Arbeitsplatz-Standards nicht angepasst wurden.
von Wallwitz: Dazu muss man sagen, dass die EZB sicherlich nicht die kreativste unter den Zentralbanken ist. Die Bank of England beispielsweise hat einen eigenen Topf für Unternehmen. Die Banken traten zwar als Vermittler auf, das Geld ging aber direkt an Hausbauer und Industrieunternehmen. Die US-Notenbank andererseits hat direkt die Immobilienindustrie gefördert, indem sie verbriefte Immobilien, sogenannte Mortgage Backed Securities, gekauft hat. Dadurch kam die Kreditvergabe bei Immobilien wieder ins Rollen.
Man kann sich als Zentralbanker durchaus etwas ausdenken. Das Problem hierzulande ist, dass die Deutschen sofort aufschreien, wenn es bei den Ideen über sehr enge Grenzen hinausgeht.
DAS INVESTMENT.com: Die Frage, ob Mario Draghi der richtige EZB-Präsident für die aktuelle Situation ist, erübrigt sich also.
von Wallwitz: Wir haben keinen anderen. Und bisher macht er seinen Job gut. Ich wüsste nicht, wo er im Rahmen seiner Möglichkeiten große Fehler gemacht hätte.
Reuss: Infrage stellen muss man stattdessen die Grenzen seiner Befugnisse. Er hat bereits mehr gemacht, als sein Amt hergibt. Sein legendärer Satz im Juli 2012 hat schlagartig dafür gesorgt, dass die Eurokrise zunächst einmal vorbei war. Seitdem ist der Euro eine der stärksten Währungen, obwohl vorher für einige unklar war, ob es ihn in ein paar Wochen noch gibt.
Pesarini: Damals war das dramatisch. Viele haben den Weltuntergang kommen sehen und dementsprechend Geld angelegt. Goldmünzen wurden auf einmal gekauft. Es ist aber nun einmal so, dass der Mensch ein kurzes Gedächtnis hat. Deswegen gibt es viele, die die langfristigen Themen aus dem Blick verlieren. Für mich sind die aber zentral. Für die Einschätzung der Märkte wie auch für die Anlagestrategie.
Von: Ansgar Neisius
Quelle: DAS INVESTMENT.