SJB | Korschenbroich, 12.09.2014. Am letzten Donnerstag gab der EZB-Chef Mario Draghi überraschend eine Senkung der Leitzinssätze bekannt. Fondsmanager und Volkswirte kommentieren diesen Schritt.
Der EZB-Rat hat auf seiner Sitzung in Frankfurt alle drei Leitzinssätze um je zehn Basispunkte reduziert. Der Hauptrefinanzierungssatz liegt nun bei 0,05 Prozent, der Einlagensatz bei minus 0,2 Prozent. Dieser Schritt kam überraschend: Nur sechs von 57 Ökonomen aus einer Bloomberg-Umfrage haben das im Vorfeld prognostiziert. Nun kommentieren Investment-Manager und Volkswirte die Entscheidung des EZB-Chefs Mario Draghi. Die Leitzinssenkung sei schon längst überfällig gewesen, meint Luke Bartholomew, Investment Manager bei Aberdeen Asset Management. Draghi habe endlich die Erwartungen der Märkte erfüllt. Und die gestrige Zinssenkung dürfte nicht die letzte gewesen sein – trotz Draghis anderslautenden Versprechen.
„Jahrelang hat die EZB nur langsam reagiert und die Märkte dadurch oft enttäuscht. Aber angesichts düsterer und deutlich schlechter werdender Konjunkturindikatoren hat Draghi heute die Erwartungen der Märkte tatsächlich mehr als erfüllt. Frustrierend ist, dass es so lange gedauert hat und die Inflation erst auf einen so niedrigen Stand fallen musste. Aber Draghis Reaktion ist definitiv ein Fortschritt. Obwohl die heutige Ankündigung nicht einstimmig entschieden wurde, wird der Widerstand gegen Draghi innerhalb des Rates geringer, je mehr die europäische Erholung lahmt.
Ein Ankaufprogramm für durch Vermögenswerte gesicherte Wertpapiere (Asset Backed Securities, ABS) und Pfandbriefe (Covered Bonds) könnte zwar große Auswirkungen haben. Aber niemand weiß wirklich, ob ausreichend Papiere auf dem Markt verfügbar sind, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Diese Maßnahmen entsprechen einer abgespeckten Variante des ‚Quantitative Easing‘, und Draghi lässt sich die Tür für weitere Schritte offen. Sein Versprechen, dass die gestrige Zinssenkung die letzte sei, wird unterlaufen durch die Tatsache, dass er das gleiche Versprechen nach der letzten Zinssenkung gemacht hat. Aber er muss diese Aussage treffen, um Banken von seinem langfristigen Finanzierungsprogramm zu überzeugen. Natürlich ist ein schwächerer Euro sein eigentliches Ziel. Aber gemäß der chiffrierten Sprache der Zentralbanken kann er dies nicht explizit aussprechen.“
„Die Jagd auf Rendite am Anleihenmarkt wird anhalten“
Ähnlich sieht das Martin Harvey, Anleihen-Portfoliomanager bei Threadneedle Investments:
„Die EZB hat die Erwartungen des Marktes in diesem Monat erneut übertroffen. Denn sie hat zum einen deutlich gemacht, dass sie an ihrem Inflationsziel festhält. Zum anderen hat sie hervorgehoben, dass die Marktteilnehmer nach so vielen Monaten mit niedrigen Inflationsraten die Hoffnung verlieren könnten.
Dass die Inflationserwartungen kürzlich gefallen sind, hat die EZB heute zu einer Zinssenkung und einem starken Bekenntnis zu ABS-Käufen bewogen. Im Zusammenspiel mit dem TLTRO-Programm könnten diese Maßnahmen die Bilanz der EZB um bis zu eine Billion Euro aufblähen.
Ein so großes Programm zum Aufkauf von Vermögenswerten wirft gewiss Fragen hinsichtlich der damit verbundenen technischen Schwierigkeiten auf. Dies erklärt, weshalb die EZB den Umfang des Programms nicht genauer beziffert. Nichtsdestotrotz sollte ihr allgemeines Bekenntnis genügen, um das Vertrauen des Marktes in sie und ihre Fähigkeit, ihrem Mandat gerecht zu werden, zu stärken.
Das ABS-Programm wird eine Phase der ultralockeren Geldpolitik einläuten, wenn auch ohne die dabei üblicheren Staatsanleihenkäufe. Solche politischen Mittel sind immer mit organisatorischen Hürden verbunden. Dennoch behält die EZB sie für den Fall, dass die Konjunktur sich weiter verschlechtern sollte, in der Hinterhand. Vorerst sollte diese Form der Geldpolitik risikoreicheren Vermögenswerten weiteren Auftrieb geben. Zudem dürfte sie dafür sorgen, dass die Jagd auf Rendite am Anleihenmarkt anhält – wenigstens so lange, bis sich zeigt, wie schnell die Bilanzverlängerung der EZB von statten geht.“
Leitzinssenkung könnte den Euro aufwerten
Auch Michael Hünseler, Leiter Credit Portfolio Management bei Assenagon, begrüßt die Leitzinssenkung. Trotzdem warnt er Anleger davor, Zinsrisiken einzugehen. Er erklärt, in welchen Marktsegmenten Anleger stattdessen gute Erträge erzielen können und warum die Leitzinssenkung das Gegenteil von der beabsichtigten Abwertung des Euros erreichen könnte.
„Die jüngsten europäischen Konjunkturdaten sind eher enttäuschend ausgefallen, und es ist immer wieder die Rede von einem möglichen verlorenen Jahrzehnt in Europa. Das alarmiert Mario Draghi. Insofern wollte er offenbar ein Zeichen setzen, dass er keinen weiteren Preisrückgang dulden wird.
Der Fokus der EZB dürfte in diesem Zusammenhang auf dem ABS-Kaufprogramm liegen. Aber vermutlich erscheint es ihr noch zu früh, Details dazu bekannt zu geben. In der Zwischenzeit erschien ihr die heutige Zinssenkung um zehn Basispunkte offenbar als sinnvolle Lösung.
Ein ABS-Kaufprogramm im Volumen von 500 Milliarden Euro erscheint ziemlich groß angelegt – vor allem angesichts der Tatsache, dass die Emissionstätigkeit in letzter Zeit eher verhalten war. Entscheidend wird sein, wie viel Risiko die EZB tatsächlich auf ihr Buch nimmt. Denn für die Banken dürfte es mitunter deutlich günstiger sein, sich im Rahmen des TLTRO Liquidität zu beschaffen anstatt durch den Verkauf von ABS.
Auch wenn der Markt mit anhaltend niedrigen Zinsen in Europa rechnet, erscheint es nicht angeraten, Zinsrisiken einzugehen. Aber es gibt noch immer Marktsegmente, die attraktive Risikoprämien bieten. Dazu gehören Hochzinsanleihen, unter anderem angesichts ihrer niedrigen Ausfallraten.
Es besteht ein Interesse daran, den Euro zu drücken. Das Dilemma ist nur: Immer dann, wenn die EZB die Märkte so wie heute positiv überrascht, ermuntert sie dadurch ausländische Investoren – und das gibt dem Euro Auftrieb.“
„Der Steuerzahler wird in die Haftung genommen“
Wesentlich skeptischer sieht das Thorsten Polleit, Chefvolkswirt bei Degussa Goldhandel. Er zählt die Nachteile der Leitzinssenkung auf:
Die EZB will weitere Kreditrisiken der Banken übernehmen – der Steuerzahler wird in die Haftung genommen.
Künstlich tiefe Zinsen (de facto Nullzinsen) sorgen für Fehlentwicklungen. Beispielsweise werden die Finanzmarktpreise künstlich aufgebläht, und Investoren werden verlockt, zu hohe Investitionsrisiken einzugehen.
Künstlich niedrige Zinsen entwerten die Ersparnisse, weil die Renditen der Spargelder vielfach bereits unterhalb der Geldentwertungsrate liegen. Sparen und investieren wird entmutigt. Der Kapitalstock wächst nicht mehr – und damit schwächt sich die gesamtwirtschaftliche Produktionsleistung ab.
Die Politik des billigen Geldes verringert die Reformanreize. Künstlich tiefe Zinsen mindern den Druck auf die Regierungen, Strukturveränderungen und Haushaltskonsolidierung voranzutreiben. Schlecht wirtschaftende Banken müssen nicht aus dem Markt ausscheiden und den Weg für bessere Anbieter frei machen. Auch das schadet dem künftigen Wachstum.
“Die EZB gibt Vollgas, aber der Motor ist im Leerlauf”
Auch Uwe Burkert, Chefvolkswirt bei der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW), zeigt sich skeptisch:
Der EZB-Rat hat heute auch die Stabsprojektionen für Inflation und Wachstum veröffentlicht, die gegenüber dem Juni für die Jahre 2014 und 2015 etwas gesenkt wurden. Für das BIP erwartet die EZB jetzt 0,9 Prozent in 2014 und 1,6 Prozent in 2015. Die Inflation im laufenden Jahr sieht sie bei 0,6 Prozent und für 2015 unverändert bei 1,1 Prozent. Der Eindruck aus den Daten des Euroraumes ist jedenfalls, dass die Geldpolitik ihre PS nicht mehr auf die Straße bringt. Sie gibt Vollgas, aber der Motor ist im Leerlauf.
Sozusagen flankierend will die EZB – auch dies ist eine Überraschung – schon ab Oktober Kreditverbriefungen (ABS) und Covered Bonds von den Geschäftsbanken ankaufen. Skepsis hinsichtlich dieser Maßnahmen dürfte aber im EZB-Rat zu spüren gewesen sein, denn die Entscheidungen wurden nicht einmütig beschlossen, so Draghi. Einige Mitglieder wollten weniger, andere hingegen sogar mehr, sagte der Präsident auf der Pressekonferenz.
Vielleicht als Entgegenkommen an die Skeptiker ist laut Draghi für die Leitzinsen nunmehr keine weitere technische Maßnahme möglich – soll heißen: Der Boden ist gefunden. Das hatten wir eigentlich schon nach dem Juni-Schritt gedacht. Dafür ist aber bei den quantitativen Maßnahmen das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht. Laut Draghi hat der Rat auch über weitergehende Maßnahmen, das heißt über den Ankauf öffentlicher Anleihen diskutiert. Angesichts der jüngeren Vergangenheit wird man sich daher auch auf eine Ausweitung des Ankaufprogramms der EZB einstellen müssen. Das Ziel der EZB ist, die Liquidität im Bankensystem zu erhöhen“
Martin Moryson, Chefvolkswirt von Sal. Oppenheim, zeigt sich ebenfalls skeptisch:
„Die EZB überrascht die Märkte mit einer Zinssenkung und der Ankündigung eines ABSKaufprogramms. Die Marktteilnehmer bekommen ganz klar signalisiert, dass die EZB zu handeln bereit ist. Da sie aus technischen Gründen das ABS-Kaufprogramm bisher nur ankündigen kann – die Details sollen ja erst nach der nächsten Sitzung bekannt gegeben werden – gibt es als Trostpflaster noch eine Zinssenkung obendrein.
Das wird nicht die letzte Maßnahme sein. Während man das ABS- und Pfandbrief-Kaufprogramm noch zu den Maßnahmen zählen kann, die den Kreditkanal der Geldpolitik wieder gängig machen sollen, werden die nächsten Maßnahmen darüber hinaus gehen und ein quantitative Lockerung (Quantitative Easing) europäischer Couleur darstellen. Wir zählen daher das ABS-Ankaufprogramms als Einstieg in ein breiter angelegtes Ankaufprogramm, in dem auch Staatsanleihen als ultima ratio ihren Platz haben könnten. Schließlich kann die EZB auf der Zinsseite nun wirklich nichts mehr machen. Die Zinsen sind nun faktisch bei null angelangt.
Eine solch expansive Geldpolitik ist nicht frei von Risiken, und das Dilemma der EZB bleibt: Sie ist als einzige Institution der Eurozone jederzeit handlungsfähig und holt die Kohlen aus dem Feuer. Mit ihren diversen Maßnahmen lullt sie die Märkte ein und nimmt damit den Regierungen den Druck zu umfassenden Strukturreformen. Sie betont zwar regelmäßig die Arbeitsteilung zwischen Geld- und Fiskalpolitik und schreibt den Regierungen inzwischen sogar recht freimütig in die Bücher, wie die Reformen aussehen müssten, die sie von ihnen erwartet. Allein das alte Muster bleibt: Die EZB liefert, die Regierungen nicht in von der EZB gewünschter Form und Geschwindigkeit. Die Gefahr von Blasenbildung an Asset-Märkten steigt, und eine Korrektur kann heftig ausfallen. Insbesondere, wenn die angelsächsischen Zentralbanken in absehbarer Zeit die Zinsen erhöhen werden.”
EZB spielt die Ouvertüre zum Quantitative Easing
Jörg Krämer, Chefvolkswirt von der Commerzbank, rechnet mit einer Wahrscheinlichkeit von 60 Prozent, dass die EZB Staatsanleihen im großen Stil aufkaufen wird.
„Die EZB hatte die Märkte monatelang auf ein kleines Anleihekaufprogramm vorbereitet. Ursprünglich wollte sie nur Papiere kaufen, die durch Kredite an mittelständische Unternehmen besichert sind (Mittelstands-ABS). Aber gestern hat die EZB eine Kehrtwende vollzogen. Sie wird auf breiter Front alle möglichen Formen von ABS sowie Pfandbriefe erwerben. Mit schätzungsweise 250 bis 300 Mrd Euro könnte das Kaufvolumen in einen Bereich fallen, den man mit „quantitativer Lockerung“ (QE) assoziiert. Wir sprechen deshalb von einer QE-Ouvertüre. Dies gilt umso mehr, als sich die EZB die Option für breitangelegte Käufe von Staatsanleihen offen hält. Wir sehen hierfür nach wie vor eine Wahrscheinlichkeit von 60%. Denn die EZB wird ihre noch immer viel zu optimistischen Konjunkturerwartungen deutlich senken müssen.“
„Die Wirtschaftsnachrichten in der Eurozone werden sich Ende 2014 verbessern“
Simon Yard, Chefvolkswirt von Henderson Global Investors, rechnet hingegen nicht mit einer quantitative Lockerung
“Die EZB übertraf die Erwartungen, indem sie die Leitzinsen um 10 Basispunkte senkte und den Erwerb von Pfandbriefen und ABS früher als erwartet verkündete.
Allerdings gab EZB-Präsident Draghi gab bekannt, dass die gestrige Entscheidung nicht einstimmig war. Eine umfangreiche quantitative Lockerung scheint damit nicht geplant zu sein. Damit lässt Draghi Hoffnungen scheitern, die er durch seine Rede in Jackson Hole weckte.
Die EZB wird sich wahrscheinlich bis Dezember zurückgehalten, um die Auswirkungen ihrer seit Juni umgesetzten geldpolitischen Maßnahmen zu bewerten. Wir gehen davon aus, dass sich die Wirtschaftsnachrichten in der Eurozone Ende 2014 verbessern werden.“
Von: Svetlana Kerschner
Quelle: DAS INVESTMENT.