SJB | Korschenbroich, 06.08.2015. Wie geht es nach dem Crash weiter an den Börsen im Reich der Mitte? Die Kursturbulenzen beschäftigen Anleger und Fondsmanager gleichermaßen. Während Optimisten an die chinesische Erfolgsstory glauben, sehen Pessimisten viele Unsicherheitsfaktoren, die die Kurse weiter in die Tiefe reißen könnten.
Der Kurseinbruch an den chinesischen Festlandsbörsen in Shanghai und Shenzhen kam für viele überraschend. Obwohl einem zuvor schon etwas schwindelig werden konnte bei Kurssteigerungen von 150 Prozent innerhalb eines Jahres. Mitte Juni war es dann mit der Herrlichkeit erst einmal vorbei: Über drei Wochen hinweg drängten die Notierungen mit Macht nach unten, der Shanghai Composite Index verlor bis zu 45 Prozent.
Nichts schien die Kurse auf ihrem Weg nach unten aufhalten zu können, auch nicht die Eingriffe von offizieller staatlicher Seite. Jegliche Interventionen von außen verpufften relativ schnell und konnten die Märkte nur sehr kurz beruhigen. Als letzte Rettung ordnete die Wertpapieraufsicht an, dass Besitzer von Beteiligungen von mehr als 5 Prozent an einem Unternehmen diese Papiere ein halbes Jahr lang nicht verkaufen dürfen. Zudem wurden eine ganze Reihe von Aktien gänzlich vom Handel ausgesetzt. Das konnte den Abwärtstrend zunächst stoppen. In Shanghai legte der Index zwischenzeitlich wieder um 18 Prozent zu, in Shenzhen sogar um 25 Prozent.
Wer jedoch geglaubt hatte, jetzt würde wieder alles bergauf gehen, wurde Anfang dieser Woche eines Besseren belehrt. Nachdem viele chinesische Unternehmen unbefriedigende Quartalszahlen meldeten, verlor der Shanghai Composite über 8 Prozent – der größte Tagesverlust seit 2007. Sofort schaltete sich wieder die Börsenaufsicht ein und kündigte weitere Stützungskäufe an, woraufhin sich das Geschehen prompt wieder beruhigte. Sogar eine Sonderkommission wurde einberufen, die einem „konzentrierten Ausstieg aus Aktien“ nachgehen soll.
Bislang machten Beobachter für die drastischen Verluste der in Shanghai und Shenzhen gehandelten A-Aktien vor allem die Verkäufe chinesischer Privatinvestoren verantwortlich. Viele von ihnen hatten sich zuvor dem Aktiengeschäft zugewandt, nachdem die Aussichten auf Gewinne am Immobilienmarkt immer schlechter wurden. Dabei sollen auch in großem Stil Käufe auf Kredit stattgefunden haben.
Doch nun werden auch vermehrt ausländische Investoren verdächtigt, für die Verkaufswelle verantwortlich zu sein. Seit die chinesische Führung im Sommer vergangenen Jahres die Börsen in Shanghai und Shenzhen ein ganzes Stück weit geöffnet hat, fließt zunehmend ausländisches Kapital in die A-Aktien. Gleichwohl: Noch sollen sich 90 Prozent des Aktienkapitals dieser beiden Märkte in den Händen privater chinesischer Investoren befinden.
Doch wie geht es nun weiter? Fabrice Jacob, Manager des LFP JKC Asia Value, sieht ausländische Investoren an den chinesischen Aktienmärkten deutlich unterrepräsentiert und China in globalen Portfolios und Indizes stark untergewichtet. Er glaubt deshalb an ein immenses weiteres Kurspotenzial für A-Aktien und die in Hongkong gehandelten H-Aktien chinesischer Unternehmen. Der Gründer der in Hongkong ansässigen und zum französischen Vermögensverwalter La Francaise gehörenden JK Capital Management ist zudem von den Finanzreformen überzeugt, die die chinesische Führung angestoßen hat.
Weniger Optimismus versprüht Ashish Goyal. Der Manager des NN Greater China Equity blickt nicht nur kritisch auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes, sondern auch auf die Geldpolitik der chinesischen Währungshüter. Zwar schließt Goyal steigende Aktienkurse an den China-Börsen nicht aus. Er sieht dafür aber eher den politischen Willen der Regierung ausschlaggebend, hohe Notierungen mit aller Macht halten zu wollen.
Fabrice Jacob, Manager des LFP JKC Asia Value
Die Kombination aus starker Führung und einem politischen Ein-Parteien-System wird China dabei helfen, Probleme zu vermeiden, wie sie in Indien und Indonesien zu beobachten sind. In beiden Ländern tun sich erst kürzlich gewählte Regierungschefs schwer, ihre visionären Reformen umzusetzen.
China hat klar seinen Willen bekundet, den Renminbi zur fünften Währung im Programm für Sonderziehungsrechte des Internationalen Währungsfonds (IWF) aufsteigen zu lassen. Daran wird IWF-Chefin Christine Lagarde Bedingungen knüpfen, die Öffnung der Kapitalbilanz Chinas und eine uneingeschränkte Konvertierbarkeit der Währung betreffend. Seit Jahresbeginn gab es keine einzige Woche, in der nicht Finanzreformen angekündigt wurden. Sie alle haben ein einziges Ziel: ein offenes Finanzsystem.
Zu den Reformplänen gehören unter anderem die Einrichtung eines Einlagensicherungssystems, liberalisierte Zinssätze, Lizenzvergaben für das Einlagengeschäft an Nicht-Finanz-Internetfirmen, ein Programm der wechselseitigen Anerkennung von Investmentfonds zwischen Hongkong und Festlandchina sowie ein neuer Markt für Kommunalanleihen. Darüber hinaus wurde durch das Shanghai-Hong-Kong-Stock-Connect-Abkommen der Markt für A-Aktien für jedermann zugänglich.
Dies sind lediglich die markantesten aus einer langen Liste an Finanzreformen, die allesamt in den vergangenen sechs Monaten angekündigt wurden und damit die Aufmerksamkeit auf alle chinesischen Aktienmärkte legen. Sie machen heute ungefähr 18 Prozent der globalen Marktkapitalisierung aus. Das Handelsvolumen, das im April in Hongkong, Shanghai und Shenzhen umgesetzt wurde, belief sich auf das 3,6-fache des an der New York Stock Exchange und der Technologiebörse Nasdaq zusammen gehandelten Volumens.
Da ausländische Investoren den Kauf von A-Aktien bislang als zu hürdenreich empfunden haben, ist China in globalen Portfolios und Indizes stark untergewichtet. Das soll sich jedoch schnell ändern: FTSE Russell und MSCI arbeiten bereits an einer Aufnahme der A-Aktien in ihre Indizes. FTSE Russell hat gerade erst 5 Prozent der A-Aktien seinem Schwellenländerindex hinzugefügt – eine Vorgabe, der US-ETF-Riese Vanguard mit seinen Produkten gleich Folge leistete. Der Trend dürfte zügig weiter nach oben zeigen – so lange, bis China letztlich bis zu 50 Prozent an jedem beliebigen Schwellenländerindex ausmacht.
Die Öffnung der Leistungsbilanz Chinas bedeutet ebenfalls, dass die Festlands- und Offshore-Märkte, also das A- und H-Aktien-Segment, sich einander annähern und der Abschlag der zur Jahresmitte noch rund 30 Prozent niedriger gehandelten H-Aktien verschwinden wird.
Viele Investoren sorgen sich, dass diese Entwicklung den chinesischen Aktienmarkt unverhältnismäßig stark steigen lassen wird. Allerdings ist es wichtig, zwischen den Märkten zu unterscheiden, da ihre Wertentwicklung stark auseinander geht. Wir sprechen an diesem Punkt nicht mehr von einem einzigen chinesischen Markt, sondern von vier verschiedenen Märkten.
Der Markt für A-Aktien in Shanghai, der hauptsächlich von großen staatseigenen Unternehmen angetrieben wird, notiert bei einem diesjährigen Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von 19, während der Technologie- und Mid-Cap-lastige Shenzhen-Markt bei einem KGV von 43 liegt. Der Chinext-Markt, der sich auf kleine Börsenneulinge mit kurzer Erfolgsbilanz konzentriert, notiert bei einem KGV von 56, was der Definition einer echten Blase schon sehr nahe kommt. Im Vergleich dazu haben H-Aktien lediglich ein KGV von 9. Diese Unterschiede finden selten Erwähnung, wenn es um den chinesischen Aktienmarkt geht. Das ist auch ein Grund, warum wir heute nach wie vor von sehr viel Aufwärtspotenzial auf dem Hongkong-Markt ausgehen.
Über die finanziellen Aspekte der zurzeit stattfindenden Reformen hinaus gibt es ein spürbares Gefühl von Optimismus im Land. Es wird durch die Dynamik der Wirtschaft unterstützt, die wiederum von einem starken Dienstleistungssektor herrührt. Selbstverständlich könnte China im weiteren Verlauf einige Rückschläge erleben – etwa, wenn der Renminbi doch nicht Teil des SDR-Programms des IWF werden sollte. Allerdings ist das von Präsident Xi Jinping gesetzte Ziel sehr klar und die Geschwindigkeit, mit der China darauf zusteuert, gigantisch.
Ashish Goyal, Manager des NN Greater China Equity
Die konjunkturelle Abkühlung in China setzt sich fort. Wenn es hier auch um einen langfristigen negativen Trend geht, so ließ die Dynamik gerade in den vergangenen Monaten besonders deutlich nach. Bislang gibt es aus unserer Sicht keine überzeugenden Hinweise auf eine baldige Stabilisierung. Jeder weitere enttäuschende Wachstumsfaktor scheint diese Entwicklung noch zu verstärken.
Die Entscheidungsträger in China halten immer noch an hohen, unserer Meinung nach unrealistischen Wachstumszielen fest. Die Sorge um systemische Risiken in der chinesischen Volkswirtschaft nimmt zu. Insbesondere sind neben der konjunkturellen Schwäche die Krise im Bau- und Rohstoffsektor, die erheblichen Kapitalabflüsse in jüngster Zeit, Zweifel an der Effektivität der wirtschaftspolitischen Lockerung sowie die steigende Verschuldung zu nennen. Aber auch die wenig günstige demografische Entwicklung, also der Rückgang der erwerbstätigen Bevölkerung, ist ein Zeichen für die nachlassende Dynamik.
Die Markterwartungen an eine deutlichere konjunkturpolitische Stimulierung sind kaum mehr zu zügeln. Es dominiert die Überzeugung, dass die Lockerung deutliche Wirkung zeigen wird. Bislang sehen wir aber keine Anzeichen für durchgehende fiskalpolitische Maßnahmen. Die Weichen dafür sind zwar gestellt, doch bedarf es weitergehender Schritte, um die negativen Kapitalflüsse auszugleichen.
Für die politischen Entscheidungsträger in China erschwert der Kapitalexodus, unter anderem durch die Auflösung von Carry Trades in US-Dollar und die strengere Regulierung des Schattenbankensystems, die Situation. Dies hat die Gelegenheiten für hochverzinsliche Investments deutlich reduziert. Aber auch die Krise im Immobiliensektor und die Anti-Korruptionskampagne spielen eine Rolle. Und nicht zuletzt hat die seit Anfang 2014 zunehmende Volatilität am Devisenmarkt eindrücklich demonstriert, dass der Renminbi nicht nur aufwerten kann. Das wollte die chinesische Regierung zwar, aber der Preis ist der Abzug von Kapital aus dem Ausland.
Wir fragen uns, wie die Währungshüter den Kapitalabfluss stoppen können. Der chinesische Exportsektor steht unter erheblichem Druck, angefangen mit dem hohen Lohnwachstum der vergangenen Jahre und der rückläufigen globalen Nachfrage bis zur Divergenz zwischen Renminbi und anderen Schwellenländerwährungen. Im März fielen die Exporte um 15 Prozent. Insgesamt ist die Kombination aus rückläufigem Wachstum und beschleunigten Kapitalabflüssen eine der größten geldpolitischen Herausforderungen der Regierung.
China verfügt zwar über immense Devisenreserven und einen massiven Leistungsbilanz-Überschuss. Zudem hat die Regierung die Wirtschaft und die Banken fest im Griff. Dennoch ist die wachsende Verschuldung – sie stieg seit 2008 um 83 Prozent – auf Dauer nicht tragbar. Die jüngsten Bestrebungen, die Restriktionen am Immobilienmarkt weiter zu lockern, um diesen Markt wieder anzuheizen, scheinen in den größten Städten die gewünschten Erfolge zu bringen. Doch die Fundamentaldaten des Immobilien-Sektors bleiben negativ, vor allem im Hinblick auf die Angebots- und Nachfragesituation in Tier-3- und Tier-4-Städten. Berücksichtigt man die Bedeutung des Immobilienmarktes für Chinas Volkswirtschaft insgesamt sowie die Zuversicht bei Verbrauchern und Unternehmen, so ist in den kommenden Quartalen mit weiteren Maßnahmen zu rechnen.
Die Aktienkurse könnten in China durchaus wieder stärker steigen. Schließlich ist ein starker Aktienmarkt politisch gewollt, um die Eigenkapitalfinanzierung sowie die Restrukturierung staatlicher Unternehmen zu erleichtern. Doch die allgemeine Annahme in China, dass es kaum Abwärtsrisiko am Aktienmarkt gibt, sowie die rasche Zunahme der Margen-Finanzierung beruhigen nicht gerade. Dass es auch kräftig abwärts gehen kann, hat die jüngste Entwicklung gezeigt. Noch ein Grund, der gegen weiter starke chinesische Aktienmärkte spricht, ist die allgemeine Indifferenz gegenüber den Risiken im Finanzsystem. Insgesamt bleibt China ein Negativfaktor für die Wachstumsentwicklung in den Schwellenländern.
Von: Carsten Krüger
Quelle: DAS INVESTMENT.