Kleine und mittelgroße Unternehmen in Großbritannien sind tendenziell stärker von ihrem Heimatmarkt abhängig als die Großkonzerne aus dem Leitindex FTSE 100. Warum Anleger insbesondere britische Nebenwerte derzeit meiden sollten, erklärt Thomas Neumann, Geschäftsführer von Best Advice.
Unabhängig davon, wie das britische Referendum am 23. Juni über den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union ausgeht: Anleger sollten insbesondere britische Nebenwerte besser meiden und sich die großen Unternehmen genauer anschauen.
Schon jetzt hat die Unsicherheit im Vorfeld eines möglichen Brexit das Wirtschaftswachstum von 2,4 auf 2,0 Prozent gemindert, analysiert die für die Staatsfinanzen zuständigen Behörde OBR. Dies betrifft vor allem die kleineren und mittleren Unternehmen. Diese sind tendenziell stärker vom britischen Heimatmarkt abhängig als die großen Konzerne aus dem Londoner Leitindex FTSE 100. Deshalb sollten Anleger insbesondere britische Nebenwerte besser meiden.
Doch auch die großen Börsenwerte wie Marks & Spencer, leiden unter dem schwachen Pfund, wenn sie stark von der Binnenkonjunktur abhängig sind und ihre Waren vor allem im Ausland einkaufen.
Schon jetzt hat das britische Pfund im Vergleich zum Euro sowie zum Dollar deutlich an Wert verloren. Sollte der Brexit kommen, ist mit kräftigen Kapitalabflüssen aus London und einem weiteren Absinken des Pfundes um bis zu 20 Prozent zu rechnen. Eine Zahlungsbilanzkrise ist wahrscheinlich, da die britische Leistungsbilanz mit einem Minus von vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ohnehin schon defizitär ist.
Vorsicht ist angebracht
Ob klein oder groß, in beiden Fällen gilt: Analysieren Sie genau, wie hoch die Anteile aus Umsatz und Gewinn sind, die in Großbritannien erwirtschaftet werden. Je höher die Abhängigkeit vom Königreich, desto größer die Risiken eines kräftigen Kursrutsches im Falle des EU-Austritts. Kursverluste bis zu 20 Prozent könnten die Folge sein.
Dies tangiert auch Investoren, die beispielsweise über ETFs im Stoxx Europe 50 investiert sind. Dieser Index setzt sich zu gut einem Drittel aus großen britischen Unternehmen wie HSBC, Rio Tinto oder BP zusammen.
Dass ein Exodus der Finanzunternehmen aus der Londoner City ein schwerer Schlag für die britische Wirtschaft wäre, ist klar. Banken, Versicherungen und andere Finanzunternehmen tragen immerhin 12 Prozent zur gesamten britischen Wirtschaftsleistung bei. Sie lieferten bisher mit 66 Milliarden Pfund im Jahr dem Staat mehr Steuern ab als jede andere Branche auf der Insel. Es gäbe Folgewirkungen auf die Finanzierung des Staatshaushalts. Einsparungen wären die Folge, eine Negativspirale könnte sich in Gang setzen.
Hinzu kommt, dass Aktien der Unternehmen mit großen Engagements in Schottland zunehmend riskant werden. Nach einem Brexit würde Schottland sicher einen zweiten Versuch unternehmen, sich via Referendum vom Königreich abzuspalten, um doch noch in der EU bleiben zu können. Diese politische Unsicherheit würde die Kurse von schottischen Aktien wie Diageo, Royal Bank of Scotland, Lloyds oder Standard Life zusätzlich belasten.
Die Gewinner
Neben den Verlierern der Brexit-Diskussion gibt es einige wenige Profiteure der schwachen britischen Währung: auslandsorientierte Unternehmen mit starkem Standbein in Kontinentaleuropa wie der Telekommunikationskonzern Vodafone oder der Touristikkonzern Thomas Cook sowie Firmen mit hohen Umsätzen in den USA, darunter der Pharmahersteller Shire und der Bauzulieferer Wolsely. Diese Aktien bleiben auf der Kaufliste vieler großer Investoren.
Fazit: Unabhängig von der Uhrzeit empfehle ich, mit Blick auf Großbritannien eine heiße Tasse Tee zu trinken und abzuwarten. Wahlweise beruhigt auch ein Glas schottischer Whiskey die Nerven.
Von: Thomas Neumann
Quelle: DAS INVESTMENT.