Thanksgiving-Truthähne scheinen ein populäres Thema in der Finanzbranche zu sein: Nach dem Erfinder der schwarzen Schwäne Nassim Taleb meldet sich nun Laransa-Investmentchef Björn Siegismund mit diesem Thema zu Wort.
Stellen Sie sich kurz vor, Sie seien ein junger Truthahn. Eines Tages kommt ein Mann in Ihr Gehege. Voller Panik wollen Sie fliehen. Aber der Mann tut Ihnen nichts und bringt nur Futter. Am folgenden Tag passiert das gleiche und am darauf folgenden Tag ebenso. Mit der Zeit fassen Sie Vertrauen zu dem Mann, der täglich das Futter bringt. Die Angst, die Sie noch in den ersten Tagen verfolgt hat, ist verflogen. So geht es fast ein Jahr lang – bis zum Tag vor Thanksgiving. An diesem Tag kam der Mann nicht wie gewohnt mit Futter, sondern mit dem Messer.
Ausgerechnet also an dem Tag, an dem die Wahrscheinlichkeit für den Truthahn am größten war, erneut gefüttert und umsorgt zu werden, wird er geschlachtet. Denn mit jedem Tag, an dem er gefüttert wurde, stieg seine Gewissheit darauf, dass der folgende Tag genauso verläuft, wie der letzte. Thanksgiving war dem Truthahn unbekannt und er musste auf bittere Art herausfinden, dass ihm eine wichtige Information fehlte.
Anlageberater vernachlässigen Zinsrisiko
Mit Blick auf die Zinsmärkte scheinen dieser Truthahn-Illusion auch viele Anlageberater zum Opfer zu fallen. Seit über 20 Jahren sinken die Zinsen kontinuierlich. Gab es Anfang der 1990er Jahre für deutsche Staatsanleihen neun Prozent Zinsen, so kann man heutzutage froh sein, wenn überhaupt noch ein Kupon gezahlt wird. Anleger konnten so jahrelang neben hohen Zinserträgen zusätzlich von Kursgewinnen der Anleihen profitieren. Doch was in der Vergangenheit funktioniert hat, kann in der Welt von morgen ganz anders aussehen. Selbst ohne Zinsprognose ist offenkundig, dass die Renditen der Vergangenheit vor dem Hintergrund des aktuellen Zinsniveaus kaum noch erzielbar sein werden. Im Gegenteil – das Risiko von Kursverlusten durch einen Zinsanstieg ist deutlich gestiegen.
Mit Blick auf die Empfehlungen von vermeintlichen Anlageexperten, scheinen diese allerdings das Risiko steigender Zinsen zu verdrängen. So empfiehlt beispielsweise die Stiftung Warentest mit Ihren „Pantoffel-Portfolios“ konservativen Anlegern weiterhin einen hohen Anteil an Staatsanleihen im Portfolio zu halten. Ebenso stecken viele konservative Mischfonds mit ihren konstant hohen Anleihenanteil in der Zinsfalle. Da die meisten Vermögensberater in ihrer beruflichen Laufbahn noch nie ein Umfeld steigender Zinsen miterlebt haben, scheinen sie derselben Illusion zu verfallen wie der Truthahn. Die Historie wird einfach fortgeschrieben, schließlich hat diese sich bewährt. Doch genau wie beim Truthahn wird der unvermeidliche Trendbruch fatale Folgen haben.
Portfolien der Wirklichkeit anpassen
Zum Glück sind die Folgen bei der Geldanlage meist nicht so fatal, wie der Irrtum beim Truthahn. Dennoch sollte im aktuellen Umfeld die Portfoliostruktur im Hinblick auf die Zinsrisiken überdacht werden. Obwohl das Niedrigzins-Niveau langsam in das Bewusstsein der Anleger tritt, sehen die meisten Deutschen anscheinend keine Veranlassung, ihre Anlagepolitik an die neue Wirklichkeit anzupassen. Sie halten lieber an den aus ihrer Sicht sicherheitsorientierten Anlagen fest, die jedoch – wenn überhaupt – nur noch geringe Erträge abwerfen.
Für uns ist es wichtig, Depots so zu strukturieren, dass die Risiken breit balanciert sind. Deshalb sind neben Anleihen und Aktien auch Absolute-Return Strategien, Sachwertbeteiligungen und Immobilien wichtige Portfoliobausteine. Auch wenn es heute schwieriger geworden ist, sinnvolle Portfolioalternativen zu finden, bleibt es aus unserer Sicht unabdingbar, durch ein diversifiziertes Portfolio die hohen Verluste der Truthahn-Illusion zu begrenzen.
Von: Björn Siegismund
Quelle: DAS INVESTMENT.