Aberdeen | Frankfurt, 19.11.2015.
Ausblick 2016 von Paul Diggle, Volkswirt Investment Solutions bei Aberdeen Asset Management
Deutschlands exportgetriebenes Wachstumsmodell wird 2016 auf eine harte Probe gestellt werden – nicht nur aufgrund des nachlassenden weltweiten Handelswachstums, auch der Abgasskandal bei VW wird hier zum Tragen kommen. Der von der humanitären Krise im Nahen Osten und in Afrika ausgelöste Flüchtlingszustrom könnte für Deutschland im kommenden Jahr jedoch auch unerwartete Chancen bereithalten.
Die deutsche Wirtschaft, die oft als Zugmaschine der Eurozone bezeichnet wird, ist ein wenig ins Stottern geraten. Das BIP-Wachstum lag annualisiert nur 1 % – 2 % über dem Vorjahr und die jüngsten Konjunkturumfragen und Daten zur Industrieproduktion lassen wenig Hoffnung auf eine baldige Besserung aufkeimen. Deutschland ist eine Exportnation, aber das Exportwachstum ist in der letzten Zeit ungewöhnlich schwach und das wird wohl auch 2016 so bleiben. Die Aussichten auf eine Belebung des Welthandels sind angesichts der Wachstumsverlangsamung in China und anderen wichtigen Schwellenländern gedämpft und der Abgasskandal bei VW könnte sich negativ auf die deutschen Automobilexporte in die USA auswirken. Hinzu kommt der zeitverzögerte Effekt der jüngsten Euro-Aufwertung, der die Exporte der Eurozone insgesamt belasten wird. Deutsche Exporte wird es besonders hart treffen, da das Land gegenüber den Peripherieländern der Eurozone, in denen es zu drastischen Korrekturen bei Löhnen und Preisen kam, an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt hat.
Und als wäre das noch nicht genug Gegenwind, sieht sich Deutschland noch dazu mit dem Problem einer stark alternden Bevölkerung konfrontiert. Laut Bericht der Europäischen Kommission zur Bevölkerungsalterung wird der Altenquotient – also der Bevölkerungsanteil an zu unterstützenden älteren Menschen bezogen auf den Anteil an produktiven, steuerzahlenden Erwerbstätigen – bis zum Jahr 2060 von heute 32 % auf 59 % ansteigen. Das wäre einer der höchsten Altenquotienten aller Industrienationen.
Darüber hinaus schrumpft die Bevölkerung und wird bis 2060 von aktuell 81 Millionen Einwohnern auf voraussichtlich 71 Millionen zurückgehen.
Dieser Bericht wurde jedoch vorbereitet, bevor die Flüchtlingskrise ihr jetziges dramatisches Ausmaß erreichte. Und so könnte man – auch wenn es an dieser Stelle unangemessen erscheinen mag – auch feststellen, dass ein anhaltender Zustrom junger Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Afrika im Jahr 2016 einen unerwartet positiven Beitrag zur Lösung der demografischen Probleme Deutschlands leisten könnte.
Die Flüchtlingskrise ist natürlich in erster Linie eine humanitäre Tragödie – für die Wirtschaft der europäischen Länder und insbesondere für das überalterte Deutschland könnte sich der Zustrom mit der Zeit aber als wahrer Segen herausstellen. Im ersten Halbjahr 2015 kamen circa 430.000 Asylsuchende in die Europäische Union (EU) und allein in Deutschland werden bis Ende des laufenden Jahres voraussichtlich 800.000 Menschen einen Asylantrag gestellt haben. Es gibt nur wenige Anzeichen dafür, dass dieser Zustrom 2016 nachlassen wird, er könnte sich dagegen durchaus noch verstärken. Ein großer Teil der sylantragsteller wird im arbeitsfähigen Alter sein: laut Asylstatistiken von Eurostat aus dem Jahr 2014 waren 54 % der neu in die EU eingewanderten Asylantragsteller zwischen 18 und 34 und weitere 20 % zwischen 35 und 64 Jahre alt; 25 % waren bis zu 17 Jahre alt und weniger als 1 % war über 65. Sofern in den nächsten drei Jahren noch einmal zwei Millionen Asylsuchende einwandern, von denen 75 % im erwerbsfähigen Alter sind, würde die erwerbsfähige Bevölkerung Deutschlands um 3 % ansteigen und damit deutlich verstärkt.
Problem gelöst? Nicht ganz. Sofern sich diese Zuwanderung nicht über Jahrzehnte fortsetzt, wird der Zustrom an jungen arbeitsfähigen Menschen den Rückgang der erwerbstätigen Bevölkerung nur hinauszögern und ein wenig verlangsamen. Vor der Flüchtlingskrise nahm man an, dass die arbeitsfähige Bevölkerung Deutschlands bis 2060 jährlich um 0,7 % oder innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren um 3,5 % abnehmen würde. Die Flüchtlingskrise wird also nur vorübergehend für Entlastung sorgen, mit einem Schlag werden sich die demografischen Probleme Deutschlands nicht lösen lassen.
Es sind natürlich auch eine Reihe praktischer Überlegungen anzustellen. Wir sollten nicht vergessen, dass der Zustrom an Flüchtlingen Deutschland und andere Aufnahmeländer kurzfristig belasten wird. In Ländern wie Griechenland und Ungarn, die ganz einfach nicht über die soziale und wirtschaftliche Infrastruktur verfügen, um so viele Neuankömmlinge aufzunehmen, wurden diese Belastungen bereits sehr deutlich. Die kürzliche Wiedereinführung von Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Österreich zeigt, dass selbst Deutschlands Willkommenskultur ins Wanken gerät. Die Qualifikationen der Neuankömmlinge mit den Anforderungen Deutschlands in Einklang zu bringen, könnte ebenfalls keine leichte Aufgabe sein. Die alternde Bevölkerung braucht mehr ausgebildete Kräfte im Gesundheitswesen, während für den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands im High-Tech-Bereich mehr Ingenieure und Programmierer gebraucht werden. Natürlich kommen die positiven Angebotseffekte auch nur insoweit zum Tragen, wie es Deutschland gelingt, die Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt zu integrieren, und das wiederum heißt auch dafür zu sorgen, dass die Flüchtlinge die hierfür nötigen Deutschkenntnisse erwerben können.
Für Deutschland bietet dieser Zustrom an jungen Flüchtlingen mit gutem Potenzial letzten Endes die einzigartige Gelegenheit, seine alternde Bevölkerung zu verjüngen. Und vielleicht wird 2016 dann zu dem Jahr, in dem Deutschlands demografische Zeitbombe – wenn auch nur vorübergehend – entschärft wurde.
Dirk Greiling
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