Seit einigen Monaten läuft es wieder besser in den Schwellenländern. Dafür gibt es sicherlich fundamentale Gründe. Die Initialzündung kam aber von woanders.
Manchmal ist es ein Glücksfall, veralbert zu werden. Auch wenn man zunächst den Witz nicht versteht. Als etwa 2006 ein Film mit dem Titel „Borat – Kulturelle Lernung von Amerika, um Benefiz für glorreiche Nation von Kasachstan zu machen“ erscheint, schäumt die Regierung von Kasachstan. Der Film besudele das Ansehen des Landes, heißt es, das Außenministerium droht mit Klage.
Oberflächlich betrachtet zu Recht, denn Borat ist in der Tat kein sehr schmeichelhaftes Aushängeschild Allerdings entlarvt Borat-Erfinder Sacha Baron Cohen mit seiner Satire eher die Amerikaner als die Kasachen. Zudem findet die Sache ein glückliches Ende. Sechs Jahre später räumt der damalige Außenminister Jerschan Qasychanow ein, dass sich seit dem Film die Touristenzahlen verzehnfacht haben, und sagt: „Ich danke Borat, dass er uns Touristen bringt.“
So ein Glück haben nicht alle Schwellenländer. Chile etwa versucht, über die neu gegründete Agentur Invest-Chile ausländische Investoren anzulocken. Im Juli veranstaltete sie eine viertägige Werbetour durch Kalifornien und traf acht Unternehmen aus der Nahrungsmittel-Industrie. Nahrung ist der zweitgrößte Exportzweig Chiles nach dem Bergbau. Andere Länder wie Russland und die Türkei schotten sich lieber ab, vergraulen Touristen und Investoren und setzen auf totalitäre Regime. So verschieden sind die Schwellenländer. Geworden.
In seinen Vorträgen nennt Henning Vöpel das Phänomen auch „neue Divergenz“. „Die Schwellenländer haben alle tief hängenden Früchte aus Globalisierung und hohen Rohstoffpreisen abgeerntet und müssen sich nun neue Wachstumsmodelle überlegen“, sagt der Direktor des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts (HWWI). Dafür sei ein Qualitätssprung nötig, den man nur über stabile Verhältnisse, Bildung und gute Wirtschaftspolitik schaffen könne. Die Länder müssten sich deshalb neu erfinden und nicht an alten Wirtschaftsmodellen wie dem Rohstoffexport hängen bleiben. „Eine pauschale Wachstumsgeschichte sind die Schwellenländer nicht mehr“, so Vöpel.
Ausnahmsweise doch noch in Summe betrachtet erfreuen sich die aufstrebenden Nationen unter Anlegern wieder größerer Beliebtheit. 67 Milliarden Dollar sind seit März in Aktien- und Rentenmärkte geflossen. Davor lagen acht Monate in Folge mit Abflüssen, insgesamt 81 Milliarden Dollar. Fragt man Marktexperten nach den Gründen, treten immer wieder die folgenden Punkte zutage (geeignete Fonds für Schwellenländeranlagen finden Sie im aktuellen DAS INVESTMENT EXTRA).
Grund 1 für Schwellenländer-Boom: Wirtschaft und Bewertung
Wenn alles wieder in bestimmte Märkte rennt, sollten sich dort die wirtschaftlichen Grundlagen verbessert haben. Das ist durchaus auch in den Schwellenländern so, allerdings noch nicht allzu überzeugend. So ist beispielsweise der Investmentchef und Vorstand von Feri, Heinz-Werner Rapp, von den Gewinndaten noch nicht begeistert. „Vieles von den aktuellen Kursgewinnen lebt von der Hoffnung. Damit steigen zunächst einmal die Bewertungen an den Märkten“, meint er. Bei Feri sei man in den vergangenen drei Jahren den Schwellenländern ferngeblieben, erzählt Rapp. Erst im späten Frühjahr habe man dort wieder Aktien gekauft. Am meisten stört den Strategen, dass Produktivität und Profitabilität seit Jahren sinken. „Das passiert, wenn man nicht bereit ist für Reformen und alte Strukturen weiter fortführt“, meint er. Eine wichtige Frage sei es deshalb, welche Regierungen stark und klug genug für solche Reformen sind. Indien, zum Beispiel, meint Rapp. Vielleicht auch Argentinien und Brasilien, nachdem die sozialistische und mutmaßlich korrupte Präsidentin Dilma Rousseff abgesetzt wurde.
„Der wieder aufgekommene Optimismus spiegelt nicht die Fundamentaldaten wider“, stellt auch Martin Lück fest, Kapitalmarktstratege bei Blackrock Deutschland. Die Lage in der Wirtschaft ergebe eher ein gemischtes Bild. Immerhin zeige der Trend für künftige Gewinne nach oben.
Investmentanalyst Daniel Lösche von Schroders sieht Lichtblicke bei den Frühindikatoren. „Die Einkaufsmanager-Indizes steigen wieder, Konsum und Export verbessern sich in den Schwellenländern. Damit besteht auch eine gute Chance, dass sich die Unternehmensgewinne wieder erholen“, berichtet er. Als Beispiel nennt auch Lösche Brasilien: „Ich glaube, das Land hat die Bodenbildung gesehen. Die wirtschaftliche Lage war so schlecht, dass nun bereits kleinere Erholungszeichen ausreichen, um die Stimmung zu heben. Einige Faktoren wie die Investmentaktivität deuten bereits nach oben.“
Kursabschläge haben Tradition
Wie viel Kurszuwachs an den Aktienmärkten noch drin ist, hängt nun davon ab, ob die Gewinne tatsächlich steigen und so die Vorschusslorbeeren rechtfertigen. Zumindest gemessen am Kurs-Buchwert-Verhältnis sehen einige Märkte günstig aus (siehe Tabelle). Beim Kurs-Gewinn-Verhältnis ist der Abschlag zu den Industrienationen nicht ganz so groß. Er hat sich eingeengt, aber er ist noch vorhanden. Das hat Tradition, schließlich soll er die höheren Risiken ausgleichen, die man mit Schwellenländern ins Boot holt.
Ungeachtet dessen sind vor allem Schwellenländeraktien eine gute Möglichkeit, eine stärkere globale Erholung und insbesondere das Wachstum in den Schwellenländern zu spielen, meint Schroders-Mann Lösche. Die Unternehmensgewinne schwankten stärker und seien deutlich zyklischer als in den Industrienationen.
Fragt sich nur, wie es mit dem bisherigen Chef-Wachstumslieferanten, China, weitergeht. Christian Heger, Investmentchef bei HSBC Global Asset Management, bleibt gelassen: „Das mit Abstand größte Schwellenland dürfte mit Wachstumsraten von gut 6,5 Prozent im Jahr weiter ein wichtiger Motor der Weltwirtschaft bleiben“, sagt er. Auch Henning Vöpel bemerkt Gutes: „China hat verstanden und investiert stark in Infrastruktur, Vernetzung auf dem Land, Schulen und saubere Technologien“, so der HWWI-Mann. Damit könne sich das Land das benötigte neue Wirtschaftsmodell zulegen und neues, qualitatives Wachstum schaffen.
China schüttet Schuldenberg auf
Etwas Magendrücken bereitet allerdings die Erkenntnis, dass China sein Wachstum zum großen Teil über staatliche Ausgabenprogramme finanziert. „Es ist damit künstlich erzeugt“, warnt Investmentchef Christian Jasperneite vom Bankhaus M.M. Warburg & Co. „Das sind Staatsausgaben in bedenklichem Umfang.“ Im Fachjargon heißt das auch Deficit Spending – Staaten geben Geld aus, das sie nicht haben, und belasten damit ihren Etat. „Sicherlich zeigen sich derzeit einige Erfolge. Aber die Schulden haben schon dramatisch zugenommen, das kann man nicht beliebig weitermachen“, so Jasperneite. Womit er nahtlos zum zweiten wichtigen Punkt von Schwellenländern überleitet.
Grund 2 für Schwellenländer-Boom: Renditen und Schulden
Der größte Vorteil von Schwellenländeranleihen ist und bleibt: die Rendite, obwohl sie schon in enorme Tiefen gefallen ist. Trotzdem ist es eine tolle Sache, noch 4 oder 5 Prozent zu kassieren, während der größte Teil der Staatsanleihen in Industrienationen unter 2 Prozent oder sogar unter der Nulllinie dümpelt. „Für Pensionsfonds oder andere auf Zinsen angewiesene Investoren sind sie eine der letzten Möglichkeiten“, bestätigt Jasperneite. Nach einem Kursplus von 15 Prozent seit Jahresbeginn solle man aber keine Wunder mehr erwarten. „Ein Schnäppchen ist das nicht mehr. Außerdem sind die höheren Renditen immer auch eine Kompensation für das hohe Risiko.“
Fragt sich nur, in welchem Segment man zugreifen sollte. Blackrock-Mann Lück bevorzugt Staaten als Kreditnehmer: „Sie sind niedrig verschuldet, und die Steuersysteme funktionieren gut. Ausfälle sind also nicht zu erwarten. Das ist ein bedeutender relativer Vorteil zu … sagen wir mal … Südeuropa.“ Von Unternehmensanleihen würde er dagegen die Finger lassen. Hier sind ihm die Renditevorteile im Vergleich zur Konkurrenz in den Industrieländern nicht markant genug.
Viele Unternehmen in Schwellenländern tragen eine Altlast mit sich herum: Als ihre Bilanzen 2010 und 2011 noch besser aussahen und viel internationales Geld in ihre Richtung schwappte, griffen sie ungeniert zu. „Sie konnten sich plötzlich zu einem Zinsniveau verschulden, das sie so noch nicht kannten“, sagt Kai Franke, Investmentchef bei der BHF Bank. Heute sind Unternehmen aus Schwellenländern zu 95 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung verschuldet, das ist mehr als in den Industrienationen (Seite 56). Wer in dieser Situation pauschal zugreift, etwa über einen Indexfonds, ist selbst schuld. „Die Anleihen muss man einzeln und sehr sorgfältig auswählen, das können nur Profis“, sagt Feri-Chef Rapp.Über die Anleihen kommt man automatisch auch auf zwei weitere Themen.
Grund 3 für Schwellenländer-Boom: Währungen und Rohstoffe
Meistens hat man die Wahl, Staatsanleihen in Dollar oder anderen Hartwährungen zu kaufen oder in den jeweiligen Landeswährungen. Dann hängt die Rendite auch davon ab, wie sich die Währung entwickelt. Steigt der Kurs, gibt es einen zusätzlichen Gewinn. Fällt er, kann das die Rendite auffressen und Verluste bringen.
So richtig stabil war kaum eine Schwellenländerwährung in den vergangenen Jahren. Bei rohstoffexportierenden Ländern lag es daran, dass die Einnahmen unter den sinkenden Marktpreisen einbrachen. Die immer wieder genannten Paradebeispiele hierfür sind Brasilien und Russland. In der Folge litten Etats und Bonitäten der Länder, Investoren zogen Geld ab, die Währungen werteten ab.
Importorientierte Länder profitierten dagegen von niedrigeren Rohstoffpreisen. Sie sind aber durch ihr Minus in der Leistungsbilanz auf stetige Zuflüsse aus dem Ausland angewiesen. Schließlich kaufen sie am Weltmarkt mehr als sie verkaufen, ein Beispiel ist die Türkei. Wenn Investoren ihr Geld generell nach Hause holen, brechen auch in solchen Ländern die Währungen ein. Im Juli stufte die Rating-Agentur Standard & Poor’s die Bonität der Türkei von BB+ auf BB herab. Die Regierung will dagegen vorgehen. Kann sie ja mal versuchen.
Um die eigene Währung wieder zu stabilisieren, gibt es drei Wege: Die Länder können sich über eigenständige Wirtschaftsmodelle von internationalem Geld emanzipieren. Das schafft am ehesten noch China aus den bereits genannten Gründen, die anderen sind noch weit davon entfernt. Oder sie begeistern durch ein besonders wirtschaftsfreundliches Umfeld, heben sich von den anderen Ländern ab und locken so Geld ins Land. Das trifft derzeit zu einem gewissen Grad auf Indien zu. Chile versucht es auch, die Türkei macht das Gegenteil.
Oder der dritte Weg: Steigende Rohstoffpreise entspannen die Exportlage, Etats und damit auch die Währungen. Und das passiert seit dem Frühjahr.
Wie auch immer es am Ende läuft, Anleihen in Landeswährungen sind nicht jedermanns Sache. „Die Länderrisiko-Prämie reicht uns aus, weshalb wir lieber die in Dollar notierten Papiere kaufen“, sagt Kai Franke. Ein zusätzliches Währungsrisiko werde einfach nicht gut genug bezahlt.
Auch andere Kapitalmarktstrategen präsentieren sich nicht gerade als Freunde des Währungsrisikos. Blackrock-Stratege Lück bevorzugt langfristig Anleihen in Hartwährung, sieht aber kurzfristig Chancen, dass die Währungen weiter aufwerten. „Das kann noch weitergehen, solange der Dollar nicht durch die Decke geht“, meint er und führt damit ein weiteres wichtiges Thema für Schwellenländer ins Feld.
Grund 4 für Schwellenländer-Boom: Die US-Geldpolitik
Anfang des Jahres wollte die US-Notenbank Fed noch den Leitzins übers Jahr verteilt mehrmals erhöhen. Schließlich lief die Wirtschaft ja wieder ganz gut. Damit wäre sie die einzige Zentralbank der Industrieländer gewesen, die ihr Zinsniveau erhöht. Das hätte den Dollar gestärkt und Geld heim ins eigene Land gelotst. Und raus aus Schwellenländern.
„Die Fed war damit ein erheblicher Risikofaktor für Investoren in Schwellenländern“, sagt Kai Franke. Das sei aber nun erst einmal vom Tisch, die Fed habe sich neu ausgerichtet. Grund dafür ist der neuerliche Einbruch des Ölpreises Anfang 2016. Plötzlich musste die Fed die heimische, darbende Ölindustrie stützen, die ihre Anleihezinsen sonst nicht mehr hätte zahlen können.
Für Manfred Schlumberger ist der Richtungsschwenk der Fed die eigentliche Initialzündung für die Rally der Schwellenmärkte. „Bewertungen oder andere Fundamentaldaten drehen niemals bestehende Kapitalströme“, sagt der Chefanlagestratege der Privatbank Berenberg. „Sie sind immer nur eine nachträgliche Begründung, warum etwas passiert ist.“ Vielmehr seien internationale Anleger schlicht auf dem falschen Fuß erwischt worden. Sie hatten 2015 zunächst Geld in Europa gesteckt, verloren dort aber, weil der Euro schwächelte. Also mussten sie sich etwas Neues suchen. Das waren die Schwellenländer, nachdem die Fed-Gefahr gebannt war. Nun wirkten sie mit ihren Wachstumsaussichten und Zinskupons über null plötzlich wieder äußerst charmant. Erste Investoren kauften, trieben die Kurse. „Und dann kam Momentum in die Sache“, so Schlumberger. Inzwischen sähen Märkte wie Anleihen in Lokalwährungen schon nicht mehr ganz gesund aus. „Aber diesen Trend kann nur die Fed mit kräftigen Zinserhöhungen wieder brechen. 0,25 Prozent im Jahr sind dagegen absolut verkraftbar. Solange es dabei bleibt, werden die Märkte mal zurücksetzen, aber nicht komplett kippen.“
Können sich die Schwellenländer eigentlich von der US-Geldpolitik lösen? „Das wird nur schwer gelingen“, meint HSBC-Mann Heger. „Nach wie vor sitzen die mit Abstand größten institutionellen Anleger in den USA.“ Es sieht also so aus, als würden die Märkte noch eine Weile nach der Fed-Pfeife tanzen. Wenn auch Heger zufolge vielleicht nicht mehr so stark: „Große US-Anleger haben mittlerweile langfristige strategische Positionen in Schwellenländern, die nur noch kleineren taktischen Anpassungen unterliegen.“
Es mag sein, dass die Meinungen der Kapitalmarkt-Strategen in einigen Punkten auseinandergehen. Erstaunlich einhellig sind sie aber bei der neuen Divergenz und darin, dass man sehr genau hinschauen muss, was man in den Schwellenländern kauft. Einfach pauschal einen ganzen Markt zu nehmen, kann hier nicht die Lösung sein. Denn dann hat man definitiv die Verlierer mit dabei. Und das führt zum dritten Punkt, bei dem fast durchweg traute Eintracht herrscht: Anlagen in der Türkei muss man derzeit wirklich nicht haben (geeignete Fonds für Schwellenländeranlagen finden Sie im aktuellen DAS INVESTMENT EXTRA).
Von: Andreas Harms
Quelle: Das Investment