Im Sinne von Gerechtigkeit und Solidarität sollen die Wirtschafts- und Arbeitsmarktreformen der ehemaligen rotgrünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder rückabgewickelt werden. Das bereitet Robert Halver, Leiter Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank, große Sorgen. Hartz IV? Weg damit, ansonsten besteht die Gefahr, dass auch bei uns Gelbwesten-Proteste stattfinden. Ein Bürgergeld, längere Bezugszeiten für Arbeitslose ohne Sanktionen und ein deutlich erhöhter Mindestlohn müssen ebenso her wie eine Grundrente mit dem schönen Namen „Respekt-Rente“ von 900 Euro und eine Kindergrundsicherung.
Soziale Gerechtigkeit ist nicht immer gerecht
Kann es sein, dass es bei diesen Sozialreformen vor allem darum geht, nach links und rechts abgewanderte Wähler-Schäfchen wieder in das angestammte politische Milieu zurückzuholen? Immerhin finden 2019 vier Landtagswahlen sowie eine Europawahl statt und Umfragen prognostizieren der ein oder anderen Partei alles andere als rosige Wahlergebnisse. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!
Überhaupt, ist eine Respekt-Rente gerecht, die auf Bedürftigkeitsprüfung verzichtet? Und wie viel Respekt bringt man eigentlich denjenigen entgegen, die zwar weniger als 35 Jahre „geklebt“ haben, somit keinen Anspruch auf Grundrente haben, obwohl sie während ihrer kürzeren Beitragszeit wegen insgesamt höheren Beiträgen gemäß Leistungsprinzip eine höhere Rente als die „Grundrentner“ erhalten müssten?
Und die Grundsicherung für Kinder? Am Ziel vorbeigeschossen! Eine sinnvolle Grundsicherung für Kinder wäre es, wenn sie in Ganztagsschulen unterrichtet würden, so dass auf die ordentliche Erledigung von Hausaufgaben, auf die Vorbereitung von Klausuren und konsequente Spracherlernung geachtet würde und in denen es nicht zuletzt ausgewogene Schulspeisungen gäbe. Dann könnten die Elternteile ohne schlechtes Gewissen und in Ruhe ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen. So würde Deutschland tatsächlich zur Bildungsrepublik und über verbesserte Job- und Aufstiegschancen der Kinder unendlich viel für seine Zukunftsfähigkeit tun.
Staatswirtschaft hat noch nie glücklich gemacht und wird nie glücklich machen
Wer soll überhaupt die neue deutsche Sozialromantik finanzieren? Wenn demnächst aus staatlichen Überschüssen Defizite werden, müssen die Besserverdienenden mit ihren Steuern ran, obwohl die Steuerquote schon enorm hoch ist. Zur gepflegten Kenntnisnahme: Mittlerweile zahlt auch der Otto Normal-Facharbeiter den Höchststeuersatz. Werden sie es als gerecht empfinden, nach dem Motto der Band Geier Sturzflug „Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt“ für diejenigen zu zahlen, die bei der Suche nach einem Job keine großen Eigenbemühungen mehr zeigen müssen? Ist das das neue Leistungsprinzip?
Die Etablierung eines sich überkümmernden Nanny-Staates, der es gemäß Robin Hood-Prinzip von den angeblich Reichen, den Beschäftigten, nimmt, ist weder sozial noch gerecht, sondern ein Tritt gegen das Schienbein des Leistungsprinzips und damit leistungshemmend, auch auf volkswirtschaftlicher Ebene.
Hilfe, der Staat will Marktwirtschaft betreiben
In seinem Arbeitspapier „Nationale Industriestrategie 2030“ verlangt das Bundeswirtschaftsministerium mehr Marktwirtschaft. Gute Idee! Bei näherer Lektüre spricht man jedoch ausgerechnet den Unternehmen marktwirtschaftliche Fähigkeiten ab. Deren betriebswirtschaftliche Entscheidungen seien teilweise nicht ausreichend, um globale Kräfte- und Wohlstandsverschiebungen auszugleichen oder zu verhindern. Und darum – und jetzt kommt es – sei aktivierende, fördernde und schützende Industriepolitik berechtigt, das heißt Vater Staat soll ran.
Ja, es hat gravierende unternehmerische Fehlentscheidungen gegeben, die zu Pleiten, Pech und Pannen führten. Doch wer ohne wirtschaftliche Sünde ist, werfe den ersten Stein. Hat von oben verordnete Marktwirtschaft – die hübsche Umschreibung für Staatswirtschaft – in der Vergangenheit bewiesen, dass sie es besser kann?
Macht es wirklich Sinn, eine Energiewende mit zu wenig Rücksicht auf Arbeitsplatzsicherheit und gesicherte Stromversorgung zu planen? Der digitalisierte Kapitalismus wird dramatisch mehr Strom brauchen als heutzutage. Ist das polit-ideologische Zertrampeln der deutschen Dieseltechnologie mit viel Schaum vor dem Mund ein Musterbeispiel für wirtschaftspolitische Weitsicht? Die ersten Zweifel am Wo, Wie und Was von Abgaswerten sind doch schon unüberhörbar.
Warum wird die Dieseltechnologie nicht konsequent weiterentwickelt? Stattdessen läuft man der E-Mobilität hinterher wie die Ratten dem Rattenfänger ohne die Infrastruktur zügig aufzubauen oder zum Beispiel die Frage zu beantworten, wie die hochtoxischen Altbatterien zu entsorgen sind und ob dort, wo Lithium gefördert wird – das A und O von Batterien – nicht die Umwelt regelrecht versaut wird. Kann es sein, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird?
Übrigens, wer A sagt, muss auch B sagen: Warum initiiert die „marktwirtschaftlich“ denkende Politik nicht mit viel Schmackes den Aufbau einer nationalen Batterieallianz, damit unsere heutige Vorzeigebranche morgen nicht von Tesla und den Chinesen abhängig ist, wie das Hundchen von Herrchen oder Frauchen?
Und was ist mit der Wohnungsnot, die so wenig überraschend gekommen ist wie Weihnachten und Ostern? Warum hat man Bauen so teuer gemacht, dass sich Private die eigenen vier Wände immer weniger leisten können und Investoren wegen abnehmender Renditen immer zurückhaltender werden? Interessanterweise scheint Dämmung ökologisch auch nicht immer über jeden Zweifel erhaben zu sein. Zudem klagen nicht wenige Immobilienbesitzer über Schimmel wegen mangelnder Belüftung.
Musste es so weit kommen wie in Berlin, wo aufgrund der extremen Wohnungsnöte mittlerweile fast die Hälfte der Bevölkerung der Vergesellschaftung von Wohnungsraum positiv gegenübersteht? Wenn das jemals kommen sollte, wird in der Bundeshauptstadt privat kein Ziegelstein mehr bewegt.
Schließlich, ist es überzeugend, die Fusion der beiden deutschen Großbanken politisch zu forcieren, nachdem man den Bankensektor zuerst übertrieben dereguliert und jetzt kaputtreguliert hat? Unabhängig davon, ob diese Zwangsehe ökonomisch überhaupt Sinn macht, scheint in Berlin die Angst groß zu sein, dass chinesische oder arabische Investoren oder Hedgefonds für kleines Geld große Anteile an Deutscher und Commerzbank erwerben könnten und schließlich der deutsche Finanzplatz fremdbestimmt ist. Die großen Konzentrationsbemühungen in der Finanzindustrie hat Frankreich bereits vor 20 Jahren zu deutlich besseren Bankenzeiten gemacht und damit stabile nationale Bankeinheiten geschaffen, ohne dass es zu Massenentlassungen gekommen ist.
Dem Volk aufs Maul schauen, aber nicht nach dem Mund reden
Statt sich „Marktwirtschaft“ selbst auf die Fahnen zu schreiben, soll der Staat einfach nur optimale Rahmenbedingungen für den deutschen Standort schaffen. Unsere mittlerweile dramatischen Strukturdefizite müssen angepackt werden. Sind unsere Unternehmenssteuern im weltweiten Wettbewerb zu hoch? Haben wir ein Bürokratieproblem? Übertreiben wir den Flickenteppich-haften Föderalismus von 16 Bundesländern? Ist es nicht eine Blamage, dass es die Zeit einer Generation braucht, bis Großprojekte wie der Berliner Flughafen oder Stuttgart 21 fertiggestellt sind? Ist es für die viertgrößte Wirtschaftsnation der Welt nicht beschämend, teilweise riesige Funklöcher zu haben? Das sind alles rhetorische Fragen.
Lieber Vater Staat, wir brauchen weder wahlpopulistische Sozialromantik noch gut gemeinte, aber schlecht gemachte staatliche Marktwirtschaft mit politischer Überkorrektheit. Nein, unser größtes Problem sind nicht die fehlenden Toiletten für das dritte Geschlecht.
Übernimm Deine Verantwortung auch in schwierigen Zeiten und kümmere Dich um die wirklich wichtigen Dinge. Sorge für einen gut gedüngten ökonomischen Nährboden, damit Unternehmen hier ihre Wurzeln behalten, neue Investitionen pflanzen und vor allem viele gute, nicht prekäre Arbeitsplätze gedeihen lassen. Lass Firmen Marktwirtschaft machen, damit sie ihre Wertschöpfung bei uns entfalten und nicht rüber machen nach Asien oder Amerika. Das ist für mich Sozialpolitik vom feinsten. Denn wo wirtschaftliche Perspektiven blühen und Rezessionsängste verdorren, können Gelbwesten keine Wurzeln treiben.
Nennen wir das Ganze doch einfach soziale Marktwirtschaft. Auf das Gegenteil, marktwirtschaftliche Staatswirtschaft habe ich keinen Bock.
Autor Robert Halver leitet die Kapitalmarktanalyse der Baader Bank in Frankfurt.
Von: Robert Halver
Quelle: Das Investment