Matthews Asia | London, 10.03.2022.
„Chinas Beziehungen zum Westen sind wichtiger als seine Beziehungen zu Russland, insbesondere in Europa,“ sagt Dr. Bobo Lo, unabhängiger Analyst des Think tanks Russia/NIS Center am Französischen Institut für Internationale Beziehungen (IFRI). Auf Einladung des Asien-Spezialisten Matthews Asia sprach er in einem Webinar darüber, welche Folgen die Invasion der Ukraine auf Chinas Verhältnis zu Russland, den USA und Europa hat. Gesprächspartner von Dr. Lo, der stellvertretender Missionschef der australischen Botschaft in Moskau war und Valdimir Putin mehrfach getroffen hat, war Andy Rothman, Investmentstratege und China-Experte von Matthews Asia.
Dr. Lo zweifelt an der angeblichen Nähe der beiden kommunistischen Staaten zueinander: „Das russisch-chinesische Verhältnis reicht mehr als 300 Jahre zurück, mit enormen Höhen und Tiefen. Aber es ist eine Beziehung, die vor allem von gegenseitigem Misstrauen geprägt ist.“ Es handle sich in erster Linie um eine „kalkulierende, interessengeleitete Beziehung zwischen zwei strategisch autonomen Akteuren, die ihre eigenen, weitgehend getrennten Ziele verfolgen.“ Zwar seien sich die chinesische und die russische Führung einig in ihrer Abneigung gegenüber den USA. Doch auf der internationalen Bühne nähmen die beiden Nationen sehr unterschiedliche Rollen ein, so der Russland-Experte: „China ist ein vielseitiger Akteur, der innerhalb des internationalen Systems agiert und über viel mehr Möglichkeiten verfügt als Russland. Russland ist im Gegensatz dazu ein Störfaktor und hat außer Energie und dem Militär nur sehr wenig Macht.“
Auch Chinas Präsident Xi Jinping betrachte Russland als eine Macht im Niedergang ohne eigene positive Agenda, die aber weiterhin erhebliche Fähigkeiten aufbringe, andere zu untergraben, zu sabotieren und zu behindern. Russland könne auch chinesische Ziele stören – sei es in Nordostasien, im asiatisch-pazifischen Raum, in Eurasien oder in der Arktis. Unterm Strich brauche China deshalb keine Verschlimmerung durch ein „böswilliges, verärgertes Russland“.
Rothman sah klare Unterschiede, wenn Vergleiche zwischen Russlands Angriff auf die Ukraine und Chinas Bedrohung der Unabhängigkeit Taiwans gezogen würden: „Xi ist viel realistischer als Putin. Ich glaube nicht, dass er jemals vorhatte, militärische Gewalt gegen Taiwan einzusetzen. Ich sehe auch keinen politischen Druck auf ihn, überhaupt Gewalt gegen Taiwan anzuwenden. Die meisten Chinesen sind ohnehin der Meinung, dass Taiwan ein Teil von China ist.“ Ein Krieg gegen Taiwan würde einen Angriff auf dem Seeweg von der Größenordnung der Invasion in der Normandie im Zweiten Weltkrieg erfordern. Und er wäre ein komplettes wirtschaftliches Desaster für China und seine Importe. Denn unter anderem ist die Volksrepublik stark von Halbleitern aus Taiwan abhängig, von denen sie – gemessen am Warenwert – mittlerweile mehr importiert als Öl.
Chinas Staatsführung sei durch Putins Aggression jedoch in eine schwierige politische Lage geraten, so Dr. Bo: „Xi Jinping könnte der Meinung sein, dass Putin die Situation völlig falsch eingeschätzt und den ukrainischen Widerstand, die Einigkeit des Westens und die Auswirkungen der Sanktionen unterschätzt hat.“ Doch der chinesische Staatschef versuche offensichtlich bis auf Weiteres, den politischen Balanceakt aufrechtzuhalten, Putin auf der einen Seite nicht zu stark zu pressen, ihn auf der anderen Seite aber auch nicht uneingeschränkt zu unterstützen. „Xi will sich weder auf die eine, noch auf die andere Seite festlegen. Ich bin mir nicht sicher, ob er das Vertrauen hat. Er hofft, dass am Ende alles gut ausgeht, aber natürlich ist diese Unentschlossenheit die Ursache für wirklich schlechte Entscheidungen.“
Was das gestörte Verhältnis von China zum Westen anbelangt, gebe es aktuell ein schmales Zeitfenster, dieses zu verbessern. In Europa könnte dies einfacher sein als in den Vereinigten Staaten, wo in diesem Herbst Senatswahlen anstehen und sowohl Demokraten als auch Republikaner einig gegen China seien. „Heute sieht der Westen viel geeinter aus, als noch vor zwei, drei Monaten“, so Dr. Lo. „Ich denke, Xi Jinping wird diese Lektion verinnerlichen. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass er Putin dafür verflucht, eine so fantastische Arbeit geleistet zu haben, um den Westen zu vereinen und die autoritären Staaten auf der ganzen Welt schlecht aussehen zu lassen.“
Und obwohl Dr. Lo eine militärische Eskalation in der Ukraine in kommenden Wochen erwartet, lobt er die bisherige Entschlossenheit des Westens und hofft, dass die Menschen daraus eine Lehre ziehen: „Wir können es uns nicht leisten, fatalistisch zu sein – das hätte katastrophale Folgen! Die Ukraine-Krise kann die Menschen dazu erziehen, das zu schätzen, was sie vergessen haben zu schätzen.“
Sie können sich für die vollständige Aufzeichnung der Unterhaltung (57 Minuten) von Dr. Bobo Lo und Andy Rothman hier anmelden („How Putin‘s invasion impacts China’s relations with the US and Europe“).
Matthews Asia
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