DWS| Frankfurt, 14.10.2015.
Demografie und Weltwirtschaft – „Kontinentale“ Verschiebung bereits in vollem Gange
Die Kontinentalverschiebung geht äußerst langsam voran, erfolgt fast unbemerkt, hat aber auf lange Sicht dramatische Auswirkungen. In dieser Hinsicht weist sie große Ähnlichkeiten zum demografischen Wandel auf. Lassen Sie uns mit einigen Fakten beginnen. Die Weltbevölkerung dürfte von derzeit 7,3 Milliarden bis 2050 auf über 9,7 Milliarden ansteigen. Zum Vergleich: im Jahr 1950 belief sich die Weltbevölkerung auf nur 2,5 Milliarden. Das regionale (kontinentale) demografische Gleichgewicht verschiebt sich schon seit längerer Zeit.
Im Jahr 1950 befanden sich vier der zehn bevölkerungsstärksten Länder der Welt in Europa (Deutschland, Italien, Sowjetunion und Großbritannien). Gegenwärtig zählt nur Russland, ironischerweise das Land mit der ungünstigsten demografischen Situation, zu den zehn Ländern mit der höchsten Bevölkerung. 1950 hatten die 4 bevölkerungsstärksten europäischen Länder einen Anteil von 10% an der Weltbevölkerung. Dieser Anteil ist inzwischen auf 5% gefallen und wird auf absehbare Zeit weiter zurückgehen. Dagegen wird die Bevölkerung Afrikas und Asiens in den nächsten Jahrzehnten weiter stark ansteigen, wobei insbesondere in Afrika ein drastischer Bevölkerungsanstieg zu erwarten ist (siehe Grafik). Zugegebenermaßen kaschiert der Gesamtanstieg beträchtliche zahlenmäßige Unterschiede innerhalb der Regionen (z. B. Ostasien gegenüber Südasien).
Bis zum Jahr 2050 werden drei aneinander angrenzende Länder Südasiens (Indien, Pakistan und Bangladesch) eine Gesamtbevölkerung von 2,2 Milliarden aufweisen. Zum Vergleich: die Gesamtbevölkerung Europas sowie Nord- und Südamerikas wird dann unter 2 Milliarden liegen. Nach den aktuellen UN-Projektionen dürfte die Bevölkerung Nigerias bis zum Jahr 2050 400 Millionen erreichen und damit höher sein als die Bevölkerung der USA, deren Bevölkerung den Berechnungen zufolge bei 390 Millionen liegen dürfte. Für die Länder Subsahara-Afrikas wird gleichermaßen ein rasches demografisches Wachstum erwartet. Die Demokratische Republik Kongo z.B. wird bis zum Jahr 2050 eine Bevölkerung von 195 Millionen aufweisen, was einen rasanten Anstieg gegenüber dem aktuellen Niveau von 78 Millionen darstellt. Wenn sich die genannten Projektionen bewahrheiten, werden sie ohne Zweifel sehr starke Auswirkungen haben – sowohl in ökonomischer als auch in politischer Hinsicht. Natürlich sind 50 Jahre in der Trendprognose „eine lange Zeit“.
Wer hätte noch im Jahr 1970 gedacht, dass die Fertilitätsraten in zahlreichen Entwicklungsländern so dramatisch fallen würden wie es anschließend der Fall war? Vor 40 Jahren brachte eine mexikanische Frau im Durchschnitt 7 Kinder zur Welt, verglichen mit 5,5 Geburten je Frau in Indien und Indonesien. Inzwischen sind die Fertilitätsraten in allen drei Ländern auf oder unter das Reproduktionsniveau gefallen (siehe Grafik). In der Tat sind die Fertilitätsraten in allen wirtschaftlich fortgeschrittenen Ländern und der großen Mehrheit der Emerging Markets-Länder auf oder unter das Reproduktionsniveau gefallen. Das bedeutet, dass sich die Bevölkerungszahlen im Laufe der Zeit stabilisieren und letztendlich zurückgehen werden (ohne Nettozuwanderung). Wenn wir von der Erfahrung der Industrieländer ausgehen, so wird es sich als sehr schwierig erweisen, die Fertilitätsraten stark zu steigern. In der Tat wird sich das demografische Fenster in einigen der aktuell führenden Schwellenländer rasch schließen, soweit dies nicht bereits geschehen ist (z. B. China, Russland).
Trotz der jüngsten wirtschaftlichen und finanziellen Volatilität an den Frontier-Märkten ist es lohnenswert, die demografisch wachsenden kleineren Schwellenländer in die Analyse einzubeziehen. Dort wird voraussichtlich das Wirtschaftswachstum der Zukunft generiert – zumindest wenn es diesen Ländern gelingt, wachstumsfreundliche inländische Institutionen und politische Stabilität herbeizuführen. Im Gegensatz zu den Prognosen der Abhängigkeitstheoretiker der 1960er Jahre sind die Entwicklungsländer durchaus in der Lage, in die mittleren bis höheren Einkommenskategorien vorzustoßen, selbst wenn es sich als schwieriger erwiesen hat, zu den Industrieländern aufzuschließen. Letzteres ist nur Hongkong, Singapur, Taiwan und Korea gelungen.
Dennoch ist ein partieller Aufholprozess angesichts der weltweiten Verbreitung von Technologie und wachstumsorientierter Inlandspolitik durchaus erzielbar. Natürlich haben das rapide Bevölkerungswachstum und insbesondere der steigende Jugendanteil in zahlreichen Ländern das Potenzial, eine Situation zu schaffen, die die Risiken politischer Instabilität erhöht und wachstumsorientierte Reformen und politische Ansätze unterminiert. Dies gilt besonders im Kontext erhöhter Erwartungen der Bevölkerung, des verbesserten Zugangs zu Informations- und Kommunikationstechnologie und steigender Bildungsstandards (insbesondere in Fällen, in denen diese sich nicht in verbesserten Arbeitsplatzaussichten widerspiegeln). Die politische Ökonomie wird hier eine maßgebliche Rolle spielen.
Die gegenwärtig führenden Schwellenländer haben durchaus noch Aufholpotenzial, wenn es ihnen gelingt, flankierende Strukturreformen zu implementieren. Die fortgeschrittenen Volkswirtschaften werden in zunehmendem Maße ein begrenztes Wirtschaftswachstum verzeichnen, was auf den Rückgang der Erwerbstätigen und den altersbedingten Druck auf die Ersparnisse und Investitionen zurückzuführen ist. Die Innovationskraft dürfte sich in einer alternden, zunehmend risikoaversen Gesellschaft tendenziell ebenfalls abschwächen. Obwohl sich die Alterung der Bevölkerung auf kurze bis mittlere Sicht in einer größeren politischen Stabilität widerspiegeln dürfte, könnte sie zu einem Trägheitsmoment führen, welches längerfristig ökonomisch und finanziell destabilisierend wirken dürfte (z. B. Mehrheit der „Alten“ und Reform der Sozialversicherung). Trotz der schwachen Performance der bevölkerungsreichen Frontier-Märkte in der letzten Zeit dürfte es lohnenswert sein, darüber nachzudenken, welches der zukünftigen demografischen „Schwergewichte“ die ökonomische Führung der Emerging Markets mittel- bis langfristig übernehmen wird.
Autor: Markus Jaeger