Europa solle sich seiner Stärke bewusster werden, fordert der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger. Auf einer Investorenkonferenz der Fondsgesellschaften AB und UBS Asset Management gab Ischinger einen persönlichen Ausblick auf globale politische und militärstrategische Entwicklungen.
Wolfgang Ischinger ist alter Hase auf dem Feld der internationalen Außen- und Sicherheitspolitik. Der ehemalige deutsche Botschafter in den USA sitzt der Münchner Sicherheitskonferenz vor, auf der jährlich Politiker, Diplomaten, Militärs mit Vertretern aus Wirtschaft und Wissenschaft zusammenkommen, um über Fragen des internationalen Zusammenlebens beraten.
Derzeit gibt sich Ischinger besorgt: Die weltpolitische Lage sei gefährlicher als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt nach Ende des Kalten Krieges. In einer Rede im Rahmen eines Investorentreffens der Fondsanbieter AB und UBS Asset Management in Berlin erläuterte der Sicherheits-Experte seine Sicht auf die politische und militärstrategische Situation in Europa und der Welt.
Das Vertrauen unter den Großmächten sei verloren gegangen, beklagt Ischinger. Die Krisenherde in Syrien, Ukraine, Nordkorea und andernorts bildeten eine „toxische Mischung“. Der neue US-Präsident bringe durch das „Trump‘sche Prinzip der gewünschten Unberechenbarkeit“ zusätzliche Verunsicherung. Die Gefahr einer unbeabsichtigten, jedoch nicht mehr rückgängig zu machenden Eskalation eines Konflikts sei groß, glaubt Ischinger.
Besorgt äußert sich der Außenpolitik-Experte über Ideen, die seiner Aussage nach derzeit in russischen Militärkreisen kursierten: Ein nuklearer Erstschlag, beispielsweise auf einen Nato-Peripherie-Staat wie Lettland, könne Russland bei den westlichen Nato-Partnern Respekt verschaffen. Vor allen Dingen bei jüngeren russischen Militärangehörigen stoße die Idee auf Resonanz, berichtet Ischinger.
Vier Umstände sprechen dem Diplomaten zufolge für eine akute Gefährdung der etablierten Welt-Nachkriegsordnung:
• Verlust der „Wahrheit“: Menschen könnten angesichts einer Flut von Informationen kaum mehr zwischen bewusster Falschinformationen und belegbaren Fakten unterscheiden.
• Vertrauensverlust: Menschen setzten immer weniger auf die Handlungsfähigkeit von Politikern, Institutionen und Staaten. Viele Probleme seien auf nationalstaatlicher Ebene nicht mehr sinnvoll zu lösen. Dadurch verlören Staaten vor ihren Bürgern an Glaubwürdigkeit.
• Verlust der Fähigkeit zur globalen Friedenssicherung: Selbst internationale Institutionen wie der Uno-Sicherheitsrat, geschaffen für diese Belange, könnten in Krisen nicht mehr erfolgreich vermitteln und erwiesen sich als ohnmächtig.
• Verlust des Machtmonopols von Staaten und veränderte Natur von Konflikten: Anstelle von Staaten träten immer häufiger vereinzelte Gruppierung als Urheber von militärischen Konflikten auf, die sich räumlich und personell kaumverorten ließen. Auseinandersetzungen trügen den Charakter von Bürgerkriegen.
Ein Patentrezept angesichts der angespannten Lage hat Ischinger nicht parat. Dennoch nennt der Spezialist für Außenpolitik Lösungsansätze: Allen voran solle sich die Europäische Union ihrer Stärke bewusst werden, fordert Ischinger: Die Staatengemeinschaft repräsentiere 500 Millionen Menschen. Es mangele ihr jedoch an Selbstvertrauen. Europa solle sich auch auf internationaler Ebene Reputation verschaffen, in Konflikten Position beziehen und vermitteln – ein Schritt, den man beispielsweise im Syrienkonflikt versäumt habe, bedauert Ischinger.
Der Weg zurück zu einzelnen Nationalstaaten sei die falsche Richtung. Es müsse den Europäern bewusst gemacht werden, in welcher Weise sie von der Gemeinschaft profitierten. Nicht zuletzt lasse sich durch einen Staatenbund wie die EU einiges Potenzial zusammenlegen: „28 Staaten können gemeinsam etwas bewegen“, ruft Ischinger auf. Die Lösung sei indessen nicht „mehr Europa“, sondern ein „besseres Europa“.
Nicht zuletzt mangele es Europa derzeit an geeigneten Führungspersönlichkeiten, die allseitiges Vertrauen genössen, attestiert Ischinger der Gemeinschaft. Seine Forderung: Die beteiligten Staaten sollten Europa als Chefsache ansehen und nur ihre erste Garde an fähigen Köpfen im Dienste des Projekts nach Brüssel entsenden.
Wolfgang Ischinger leitet die Münchner Sicherheitskonferenz seit 2008. Die Zusammenkünfte finden jährlich im Februar in der bayerischen Landeshauptstadt statt. Die Gäste treffen nicht als auf Regierungsebene, sondern auf private Initiative hin zusammen. 2017 tagte die Münchner Sicherheitskonferenz zum 53. Mal.
Von: Iris Bülow
Quelle: Das Investment