Die DIN-Norm 77230 „Basisanalyse der finanziellen Situation von Privathaushalten“ steht vor dem Start. Was das für die Finanzbranche bedeutet, erläutert Hans-Wilhelm Zeidler. Der Experte für den Finanzvertrieb verbindet seinen Kommentar mit einem eindringlichen Appell an Deutschlands Finanzberater.
Scheinbar sah die Finanzbranche Standardisierung und Individualität in der Beratung stets als Gegensatz. Das zeigte sich schon in der Vertriebsphilosophie. Vielerorts war es mit der Individualität nicht weit her, standardisiert waren bestenfalls die Produkte, die irgendwie zu jedem Bedarf zu passen schienen. Nicht aber die Beratungsprozesse.
Die vielen gesetzlichen Regulierungen der vorigen Jahre sind klarer Ausdruck dafür, dass das Vertrauen der Verbraucher unter der gelebten Vertriebspraxis gelitten hat. Und die Regulierungen sind zum Teil ein kostspieliges und zeitraubendes Ärgernis für Anbieter und Vertriebe gleichermaßen.
Die Finanzbranche kam zur Erkenntnis
Vielleicht brauchte es ein solches Klima, dass die Finanzbranche mehr und mehr zu der Erkenntnis kam, selbst etwas zur Verbesserung der Beziehungen zu Verbrauchern und Politik tun zu müssen. Als im Jahre 2012 das Defino Institut für Finanznorm beim Deutschen Institut für Normung (DIN) den Antrag auf Erarbeitung einer DIN SPEC PAS „Standardisierte Finanzanalyse für Privathaushalte“ stellte, war dies für manche Visionäre die passende Gelegenheit dazu. Für die Allermeisten in der Finanzbranche klangen zu diesem Zeitpunkt die Begriffe „Standard“ und „Finanzberatung“ noch völlig unvereinbar.
Und jetzt, sechs Jahre später, steht die Finanzbranche in Kürze vor ihrer ersten, unter dem Dach des DIN entstandenen Norm zur Finanzberatung: die DIN Norm 77230 „Basisanalyse der finanziellen Situation von Privathaushalten“.
Die DIN Norm als Werkzeug verstehen
Was sich sehr technisch anhört, ist für die Branche ein riesiger Schritt. Mit der Norm 77230 soll es künftig unmöglich werden, am tatsächlichen Bedarf des Kunden vorbei zu beraten. Über kurz oder lang werden sich viele Berater in Deutschland diesem Standard anschließen, um im Wettbewerb nicht zurückzufallen. Wer würde heutzutage noch Container einsetzen, die auf keinen LKW passen?
Normen haben gesetzesergänzenden Charakter
Heute wissen wir, dass Standards Individualität erst möglich machen. Und aus der Welt der Technik und Realwirtschaft wissen wir, dass offizielle Standards ganz praktisch effiziente und damit letzten Endes Kosten sparende Dienstleistungsprozesse beschreiben – und andererseits ein hohes Maß an Verbrauchervertrauen erzeugen. Normen haben gesetzesergänzenden Charakter und dienen vor Gericht als sogenannte „vorweggenommene Gutachten“. Die DIN Norm 77230 ist somit ein Werkzeug für mehr Effizienz, für mehr Haftungssicherheit und mehr Wettbewerbsfähigkeit.
In der Branche wächst die Spannung darauf, was der 39-köpfige, fachkompetent besetzte Norm-Ausschuss beim DIN erarbeitet haben wird. Ein Ausschuss, der aus Verbraucherschützern, Finanzwissenschaftlern und Vertretern der unterschiedlichen Sparten der Finanzbranche besteht.
DIN Norm geht an keinem Marktteilnehmer vorbei
Eine gewisse Spannung ist auch durchaus berechtigt. Denn die Existenz einer sie betreffenden DIN-Norm geht an keiner Branche und an keinem Marktteilnehmer spurlos vorbei. Einsatz oder Nicht-Einsatz von Normen haben nicht nur Implikationen auf das Kundenvertrauen und damit auf das Marketing, sondern auch auf die juristische Bewertung von vorgeworfenen Fehlleistungen.
Aber klar ist auch: Nur wer die Norm 77230 wahrhaftig und vollständig umsetzt und in seine Vertriebsprozesse integriert, darf damit auch werben und sich so einen Vorsprung vor anderen verschaffen. Denn es gehört zum Wesen von Normen, dass sie Klarheit, Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Verlässlichkeit schaffen. Eigenschaften, die Verbraucher sehr schnell honorieren werden.
Mahnung an alle Anwender
Eine strenge Mahnung sei an dieser Stelle an all diejenigen gerichtet, die sich nicht oder nicht korrekt an die Norm halten, aber vorgeben es zu tun. Sie machen sich der Täuschung der Verkehrskreise schuldig, also des Betrugs. Marktteilnehmer, die so agieren, schaden nicht nur sich selbst und ihren Kunden. Sondern sie untergraben auch die Bemühungen der redlich und engagiert an der Norm und weiteren Standards arbeitenden Kollegen, den unbestreitbar schlechten Ruf der Finanzbranche zu verbessern.
Mit der Norm öffnen sich manche Türen
Wenn die Norm die verdiente Akzeptanz in der Branche erfährt und wenn alle Marktteilnehmer korrekt und anständig mit den gewonnenen Chancen umgehen, dann öffnen sich für die ganze Branche perspektivisch manche Türen für weitere vom DIN moderierte Projekte der Selbstregulierung im Branchenkonsens.
Und Konsens ist das einzige valide Instrument gegen fremdbestimmte Regulierung. Themen, die zur Standardisierung und damit zur Selbstregulierung der Finanzbranche im Interesse der Verbraucher, des Verbrauchervertrauens und damit letztlich auch aller Marktteilnehmer einladen, gibt es viele. Sie gilt es anzugehen, damit Nachhaltigkeit und Ganzheitlichkeit in der Finanzberatung nicht nur als leere Worthülsen daherkommen, sondern mit klaren und einheitlichen Regeln gefüllt sind. Der Kunde wird es danken.
Von: Hans-Wilhelm Zeidler
Quelle: Das Investment