Konfuser Aktivismus an den Märkten – rasch tief Gefallens kaufen, dann noch schneller wieder verkaufen – scheint einer rationaleren Betrachtung zu weichen. Die Marktteilnehmer fragen sich: Was kommt als nächstes? Wo ist der Boden? Wie tief wird die Rezession und wie lange wird sie dauern?
Auch Behörden wie die Zentralbanken und Finanzministerien sind in der Realität angekommen: Die Europäische Zentralbank (EZB) und die US-Notenbank (Fed) wollen riesige Kaufprogramme stemmen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten in der Kommunikation mit der Öffentlichkeit scheint EZB-Chefin Christine Lagarde in die Schuhe ihres Vorgänger Mario Draghi hineinzuwachsen.
In den USA prescht die Trump-Administration vor, denn der US-Präsident will am 3. November wiedergewählt werden. Nachdem Donald Trump anfänglich die Gefahr des Virus unterschätzte, haben seine Berater ihn überzeugt rasch zu handeln, bevor es zu spät ist. So sollen in einem gigantischen Hilfsprogramm 1,2 Billionen US-Dollar bereitgestellt werden. Doch die Demokraten sperren sich – sie mutmaßen zu viel Entlastung für Unternehmen und zu wenig Hilfe für den Bürger.
Auch die deutsche Bundesregierung hat ein beispielloses Paket geschnürt, im Schnellverfahren ist es am 23. März durchs Kabinett gegangen. Es handelt sich ebenfalls um ein riesiges Programm mit einem Umfang von 156 Milliarden, das selbst ein so nüchterner Mensch wie der Bundesfinanzminister Olaf Scholz „Bazooka“ nennt. Was steckt drin? Das Paket sieht 50 Milliarden Direkthilfe für kleine Unternehmen vor. 3 Milliarden sind für die rasche, verbesserte Ausstattung von Krankenhäusern vorgesehen. 100 Milliarden sollen als Beteiligungen an Unternehmen fließen, um deren Schließung zu verhindern. Das Hilfspaket kommt in einer Größenordnung von 4 Prozent des jährlichen BIPs von Deutschland daher – nach sechs Jahren ohne neue Schulden muss dafür die schwarze Null im Bundeshaushalt fallen: Die Schuldenbremse ist ausgehebelt.
Zudem wurde ein Rettungsfonds in Höhe von 400 Milliarden Euro aufgelegt. Er sieht Kreditgarantien vor und soll Absicherungen für Unternehmen, die dringend Geld brauchen, bereitstellen. Finanz- und wirtschaftspolitische Soforthilfe ist also auf dem Weg. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass die Maßnahmen, so weitgehend sie auch sind, eine Rezession verhindern können.
Weiterhin bedrohliche Lage
Wo stehen wir derzeit in der Corona-Krise? Ziehen wir dazu den Vergleich zur vergangenen Woche. Aus Italien wurden in der letzten Woche 25.000 Infizierte und 1.800 Tote gemeldet. Aktuell beläuft sich die Infektionszahl in Italien auf 64.000 Infizierte und über 6.000 Tote. Im Vergleich dazu werden in Deutschland aktuell mehr als 29.000 Infizierte gezählt, 123 Tote sind zu beklagen. Auch in Spanien sieht die Lage bedrohlich aus. Für Deutschland ist ein derart eskalierendes Szenario nicht auszuschließen. Große Unsicherheit ergibt sich aus den USA: Hier wurde der pandemische Charakter des Coronavirus lange unterschätzt. Offensichtlich ist, dass die Epidemie von Ost nach West wandert: Aus China über den Nahen Osten nach Europa und weiter in die USA. Jeder Tag zählt. Rund um die Welt gilt es jetzt, die Kurve der Fallzahlen abzuflachen, um die Gesundheitssysteme nicht zu überlasten.
Interessant dabei: 80 Prozent der Fallzahlen-Rückgänge in China wurden durch Social Distancing erreicht. Regelmäßiges Händewaschen senkt die Fallzahlen Studien zufolge nur um 15 Prozent.
Wie schlimm wird es?
Volkswirte versuchen derzeit, die Tiefe der Rezession auszuloten: Makroschätzungen gehen davon aus, dass es schlimmer als nach der Lehmann-Pleite werden dürfte. Die Bundesregierung geht davon aus, dass Deutschlands BIP auf das Gesamtjahr 2020 gesehen um 5 Prozent zurückgeht. Die geld- und fiskalpolitische Bazooka in der Eurozone mindert die ökonomischen Folgen; dennoch wird das BIP zunächst abstürzen. Die Arbeitslosigkeit wird steigen, bei den Banken dürfte eine Pleitewelle einsetzen – eine kraftvolle Geld- und Fiskalpolitik ist daher unabdingbar.
Niemand kann derzeit abschätzen, wie stark die Volkswirtschaften in Mitleidenschaft gezogen werden. Schätzungen der UBS zufolge ist Chinas Industrieproduktion zwar wieder bei 80 Prozent des Vorkrisenstands angelangt, doch der auf das Gesamtjahr gerechnete Einbruch des BIP tut weh: Die UBS hat das chinesische BIP für 2020 auf 1,5 Prozent herunterrevidiert; bislang wurde von 6 Prozent ausgegangen. Ein ganz ähnliches Szenario dürfte sich in den USA einstellen: Volkswirte der Bank MorganStanley erwarten einen BIP-Absturz für die USA von 30 Prozent im zweiten Quartal.
Ein großer Teil der weggebrochenen Industrieproduktion dürfte sich beim Ausklingen der Krise aufholen lassen, dennoch dürften die BIP-Zahlen rund um die Welt drastisch einbrechen.
Trumps Wiederwahl dürfte vom Tisch sein
Um die künftige weltwirtschaftliche Entwicklung einzuschätzen, ist es wichtig, den Verlauf der Pandemie im Blick zu behalten. Bei günstigem Verlauf kann die Produktion schnell wieder hochgefahren werden. Entscheidend ist, dass die Gesundheitssysteme nicht überfordert werden dürfen. In China, wo rasch aus dem ganzen Land medizinisches Personal in die besonders betroffene Provinz Hubei geschickt wurde, beträgt die durchschnittliche Todesrate nur 0,5 Prozent. In Italien liegt die Todesrate hingegen beim Zehnfachen. Offensichtlich ist: Es muss gelingen, das Gesundheitssystem zu schützen. In Deutschland mit seinen mehr als 29.000 Infizierten und 123 Toten scheint das Gesundheitssystem noch nicht überfordert zu sein, das kann sich aber rasch ändern, alles ist möglich.
Die USA haben das Schlimmste noch vor sich. Hier wurde zunächst viel zu wenig getestet. 254.000 Tests wurden bislang vorgenommen, 35.000 Infizierte wurden erfasst. Bei 326 Millionen Einwohnern dürfte hier noch viel Luft für einen Anstieg der Fallzahlen sein. Bestürzend dabei: Das US-Gesundheitssystem wird sehr rasch an seine Grenzen stoßen. In der Intensivmedizin werden viel zu wenig Plätze vorgehalten. In den USA werden voraussichtlich sehr viele Menschen sterben. Viele Unternehmen werden schweren wirtschaftlichen Schaden nehmen, wobei in den USA erschwerend hinzukommt, dass 70 Prozent des BIP vom privaten Konsum abhängen, dessen größter Teil wiederum Dienstleistungen ausmacht. Der Druck auf die Politik wird deshalb stark zunehmen. Trump wird die Präsidentschaftswahl im Herbst voraussichtlich verlieren. Gerade mit Blick auf die USA bleibt es für Anleger daher brenzlig.
Mildes Eskalationsszenario weiterhin am wahrscheinlichsten
Im vorangegangenen Beitrag hatte ich drei Szenarien skizziert. Das Status-quo-Szenario dürfte mit den rasant zunehmenden Fallzahlen in den USA erledigt sein. Das dramatische Eskalationsszenario mit einem jahrelangen Bärenmarkt bleibt jedoch weiterhin relativ unwahrscheinlich. Absehbar ist, dass auf Sicht der nächsten Monate allmählich die Normalität zurückkehrt.
Deshalb ist zum jetzigen Zeitpunkt das milde Eskalationsszenario am wahrscheinlichsten. Dafür darf allerdings zum einen keine Überforderung der Gesundheitssysteme eintreten. Sollten durch die zu erwartende Lockerung bei den Regelungen für soziale Kontakte die Infektionszahlen wieder nach oben gehen, dürften angesichts der neuen Unsicherheit die Aktienmärkte weitere 10 bis 20 Prozent nachgeben.
Erst in der zweiten Jahreshälfte wird sich zeigen, wohin die Reise geht. Binnen 18 bis 24 Monaten dürfte sich die Weltwirtschaft wieder erholt haben. Wir sind derzeit nicht wirklich bullish, aber auch nicht komplett negativ eingestellt. Anleger sollten ihre Risikopositionierung jetzt durchhalten. Verkäufe, um beim schwierigen Bottomfishing mitzumachen, sind nicht ratsam. Vielmehr sollten sich Anleger derzeit mit Umstrukturierungen des Portfolios hin zu defensiveren Sektoren breit absichern.
Quelle: Das Investment