Die deutsche Bundesregierung erwartet, dass durch Digitalisierung und Künstliche Intelligenz bis 2025 etwa 1,6 Millionen Arbeitsplätze wegfallen – und 2,3 Millionen neue entstehen könnten. Welche Folgen für die Finanzbranche zu erwarten sind, fragten wir Jochen Werne vom Bankhaus August Lenz. DAS INVESTMENT: Müssen Arbeitnehmer aus allen Berufsgruppen durch den Bedeutungsgewinn der Künstlichen Intelligenz um ihren Arbeitsplatz bangen?Jochen Werne: Nein. Wer heute den Versuch wagen will, ein wenig mit Fachverstand in die Zukunft zu blicken, muss ein Grundverständnis der kurz- mittel- und langfristigen Möglichkeiten aktueller Technologien und ihrer Einsatzmöglichkeiten besitzen. Dies gilt besonders für alle Aussichten und Rückschlüsse, die im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz gemacht werden.
Viele denken beim Stichwort KI zuerst an die sogenannte „starke KI“, das heißt eine Intelligenz, die ähnlich wie ein Mensch agieren kann. Und bei vielen wandern die Gedanken dann zu selbst denkenden Robotern, die vielleicht wie in den Terminator-Filmen, dem Menschen überlegen sind und eine Bedrohung darstellen. Reale Anwendungsbeispiele für starke KI zu erschaffen, bleibt jedoch zum heutigen Stand weiter visionär.
Trotzdem spukt die Digitalisierung als Schreckgespenst für ganze Berufsgruppen durch die Medien.
Werne: In der aktuellen Praxis geht es um die immer zahlreicher werdenden und äußerst vielversprechenden Anwendungsfälle sogenannter „schwacher KI“. Damit bezeichnet man insbesondere selbst lernende Systeme, die in vielen Bereichen der Industrie 4.0. und anderen digitalisierten Bereichen unseres täglichen Lebens Anwendung finden. Siri und Alexa sind hier nur zwei populäre Beispiele. Verschwinden könnten in den nächsten zehn Jahren folglich durchaus Jobs. Doch sind die Vorhersagen zahlreicher Studien mit Bedacht zu lesen. Denn sie reichen von einem Wegfall aktueller Berufsbilder im zweistelligen Prozentbereich bis hin zu einer höheren Nettoneubeschäftigung wie es der aktuelle Job Report des World Economic Forum voraussagt.
Welche aktuellen Berufsbilder sind von dem genannten Wegfall besonders bedroht?
Werne: Wie bei jeder technologischen Evolution sind Berufe direkt betroffen, die einfache und beziehungsweise oder digitalisierbare Komponenten enthalten. Der Beruf des Bus- und Taxifahrer mag in einer eventuell zukünftigen Welt selbstfahrender Automobile obsolet erscheinen, doch zeichnet sich hier noch eine lange Übergangszeit ab. Vergessen wir nicht, dass Angst in der Menschheitsgeschichte immer ein Begleiter der Veränderung war, doch dass auch in der Übergangszeit vom Pferd zum Automobil mit Verbrennungsmotor vor mehr als 100 Jahren nicht alle Pferdekutscher von heute auf morgen dauerhaft arbeitslos wurden.
Aber trotzdem machen sich beispielsweise viele deutsche Vermittler Sorgen um den Trend hin zu Fintechs. Verdrängen nicht die Online-Angebote künftig den klassischen Finanzberater?
Werne: Für Finanzberater bedeutet die Digitalisierung, dass sie sich auf die Wurzeln ihres Berufs zurückbesinnen müssen. Dies beinhaltet eine große Chance für eine Renaissance des Berufsstandes. Der Kern ihrer Arbeit liegt nicht darin komplexe Portfolien zu managen und mit Hilfe selbst entwickelter Machine-Learning-Algorithmen zu optimieren. In der Analyse komplexer großer Datenmengen wird der Mensch und somit auch der Berater einen Computer nicht schlagen können. Stattdessen sind Finanzberater die Schnittstelle zum Kunden, die dem Privatinvestor eine komplexe Materie wie die Finanzmarkttheorie oder politische Zusammenhänge und ihre Auswirkungen auf das eigene Portfolio erklären und übersetzen können.
Was wäre ein konkretes Beispiel dafür?
Werne: Bei Gesprächen zu Bedürfnissen wie beispielsweise Wohnträumen reicht es nicht, nur ein Vergleichsportal mit alle verfügbaren Immobilienfinanzierungen aufzulisten. Stattdessen muss sich ein Berater mit dem jeweils konkreten Finanzbedarf auseinanderzusetzen und diesen optimal in die gesamte Finanzsituation des Kunden einbinden. Ähnlich wie bei einem Arzt oder Rechtsanwalt geht es also vor allem darum, den Kunden kompetent im jeweiligen Einzelfall, das heißt in genau dieser spezifischen Lebenssituation zu beraten, ohne die Gesamtsituation aus den Augen zu verlieren.
Welchen konkreten Mehrwert kann die persönliche Finanzberatung und die Finanzbranche Verbrauchern denn heute bieten?
Werne: Die Branche ist das perfekte Bindeglied zwischen menschlichen Bedürfnissen und einer komplexer werdenden sich schnell verändernden Welt. Klassische Finanzberater können einem Verbraucher abstrakte Konzepte mit konkreten Beispielen so erklären, dass er sie wirklich versteht. Mangelndes Wissen über neue technische Möglichkeiten und auch lieb gewordene kulturspezifische Gewohnheiten hemmen im Finanzsektor in manchen Ländern aktuell beispielsweise die noch schnellere Verbreitung digitaler Zahlungsmethoden. Es ist entscheidend kulturellen Besonderheiten, wie beispielswiese die Liebe der Deutschen für Bargeld, Rechnung zu tragen, ohne jedoch auf den Einsatz moderner Technologien zur Befriedung real existierenden Bedürfnisse zu verzichten. Bankintern arbeiten wir deshalb bereits an Plänen, wie wir zukünftig Blockchain Technologien für den effizienten Betrieb von Geldautomatennetzwerken einsetzen können. Heute kann der Berater außerdem noch damit punkten, dass er seinem Kunden lästige Tätigkeiten rund um die Finanzthemen abnimmt. Denn es macht den wenigsten Normalbürgern besonders großen Spaß, einen Robo-Advisor oder Online-Versicherungsmakler mit einer Vielzahl an Daten zu persönlichen zu füttern.
Inwiefern unterscheidet sich die Qualität der persönlichen Beratung durch Menschen gegenüber der standardisierten Kommunikation eines Robo-Advisors?
Werne: Viele Robo-Advisor sind in ihrem Back-end sehr effizient. Schwieriger wird es, wenn es zum Thema Mensch und Behavioral Finance kommt. Das für das dauerhafte Durchhalten einer gewählten Anlagestrategie notwendige Vertrauen ist ein wichtiger Punkt. Was passiert beispielsweise, wenn Aktienmärkte so stark einbrechen wie im Jahr 2008? Der Crash nach der Lehman-Pleite belastet das Vertrauen in die Finanzbranche bis heute und dies trotz der beeindruckenden Entwicklung der internationalen Aktienmärkte seither. Kahneman verdeutlicht in seinen Behavioral-Finance-Studien eindrucksvoll wie Erinnerungen an negative Geschehnisse mehr als doppelt so stark im Gedächtnis verankert sind wie positive Erlebnisse. So ist ein zwischenzeitlicher Wertverlust um 30 Prozent für einen langfristig orientierten Anleger zwar eine gute Gelegenheit zum Nachkaufen. Doch um dies im Krisenfall auch umzusetzen, stellt sich die Frage ob er in Zeiten der Panik besser von einem Chatbot oder einem Menschen zu rationalen Überlegungen veranlasst werden kann.
Was bedeutet das für die Ausbildung der so genannten Family Banker des Bankhauses August Lenz?
Werne: Für Finanzberater wird es in Zukunft wichtig, noch schneller bei ihren Kunden zu sein, um ihnen in Zeiten persönlicher Unsicherheit beratend zur Seite zu stehen. Dazu müssen sie lernen, Unsicherheiten zu antizipieren und Erlernen wie sie beispielsweise nach einem Crash rational mit den Emotionen der Anleger umgehen können. Helfen kann Ihnen dabei beispielsweise, einen Notfallplan in guten Marktzeiten schriftlich zu vereinbaren. Wenn außerdem entsprechende Liquidität vorgehalten wird, können die gesunkenen Aktienkurse sinnvoll als Einstiegszeitpunkt genutzt werden. Das ist keine leichte Aufgabe für einen Finanzberater, der anders als manche Online-Discounter der Branche, auch noch die Gesamtsicht auf die Finanzen seines Kunden wahren soll. Als technische Unterstützung haben wir längst digitale Finanz-Tools entwickelt. Doch diese geben wir bei uns im Hause bewusst nur einem Spezialisten an die Hand – unserem Family Banker.
Von: Christian Hilmes
Quelle: Das Investment