Das Investment: Die absurde Dämonisierung von ETFs

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Seit etwa 2015 ist in den Medien immer häufiger zu lesen, der Marktanteil von Indexfonds und ETFs sei gefährlich hoch oder könne, wenn er so weiterwachse, zu einem systemischen Risiko führen, sagt Gerd Kommer. Die Argumente findet der Honorar-Finanzanlagenberater allerdings fadenscheinig. Eine Analyse.Seit etwa 2015 ist in den Medien immer häufiger zu lesen, der Marktanteil von Indexfonds und ETFs sei “inzwischen gefährlich hoch” oder könne, wenn er weiterwachse, zu einem “systemischen Risiko” führen. Diese Kritik kommt beispielhaft in den nachfolgenden Zitaten zum Ausdruck:

• „Der stille Weg in die Knechtschaft: Warum passives Investieren schlimmer ist als Marxismus“ (Titel eines Research-Memos zu Indexfonds der amerikanischen Stock Broker-Firma Sanford Bernstein im August 2016)
• „Indexing ist eine massive Bedrohung für die Stabilität des Finanzsystems“ (Saker Nusseibeh, Vorstandsvorsitzender der britischen Fondsgesellschaft Hermes Investment Management in der Financial Times vom 26.9.2016)
• „ETFs bergen enorme Gefahren und sind in vielen Fällen sogar eine Mogelpackung“ (Rainer Laborenz, Geschäftsführer der Azemos Vermögensmanagement GmbH, Offenburg, in einem Artikel auf dem Finanzportal Fondsprofessionell am 28.7.2017).

Bevor ich auf die inhaltliche Seite der Argumente der ETF-Kritiker eingehe, sei vorab ein Gesichtspunkt festgehalten, der für das Verständnis dieser Kritik hilfreich ist: Die ETF-Ablehnung kommt überwiegend von Vertretern der Finanzbranche, die ihr Geschäftsmodell und ihr Gebühreneinkommen durch die wachsende Popularität von ETFs bedroht sehen – also von Repräsentanten des “aktiven” Investment-Managements mit einem – wenn es um die Beurteilung von ETFs geht – scheunentorgroßen Interessenkonflikt. Seitens der neutralen Institution Wissenschaft existieren kaum neuere Veröffentlichungen, die den kleinen aber wachsenden Marktanteil von Indexfonds, einschließlich ETFs als ein systemisches oder strukturelles Problem einstufen. Wenn Sie daher wieder irgendwo eine Tirade gegen die angeblichen Struktur- oder Systemrisiken von ETFs lesen, lohnt es, genau hinzuschauen, wer da wettert. [1]

Inhaltlich lassen sich die Anti-ETF-Argumente in zwei Kategorien aufteilen: Kategorie-A-Argumente zielen auf die rechtliche ETF-Struktur ab (in Abgrenzung von den wirtschaftlichen Risiken der Asset-Klasse, die ein ETF abbildet). Diese rechtliche Struktur ist – ganz unspektakulär – eine Variante der generell hoch-regulierten so genannten UCITS-Investmentfonds, allgemeinsprachlich “Publikumsfonds”. Kategorie B bezieht sich auf so genannte “systemische” Risiken, die die Verbreitung von Indexing (passivem Investieren) verursachen soll. Spezifisch ist damit die von Indexfonds und ETFs ausgehende Verdrängung anderer Formen in Aktien und Anleihen zu investieren gemeint. Daneben ist auch die “übergroße” Marktmacht der drei größten ETF-Anbieter sowie die möglichen Auswirkungen im Falle ihres Zusammenbruchs für die Kapitalmärkte Gegenstand von Kritik.

Kategorie-A-Argumente (Risiken aus der ETF-Struktur) kamen erstmalig um 2010 kurz nach dem Höhepunkt der großen Finanzkrise auf. Seitdem ist diese Diskussion im Sande verlaufen. Keines der damals beschriebenen angeblichen oder wenigstens theoretischen Strukturrisiken aus “synthetischen” ETFs (Swap-ETFs), inversen ETFs (Leerverkauf-ETFs), Leverage-ETFs (gehebelte ETFs) oder aus Wertpapierleihe hat sich in einer relevanten Weise materialisiert. Die Anteile der genannten drei ETF-Sonderformen am gesamten ETF-Marktvolumen sind ohnehin niedrig und sinkend (Swap-ETFs)[2] oder vernachlässigbar (inverse ETFs, Leverage-ETFs). Wertpapierleihe darf jeder aktive Publikumsfonds betreiben, nicht nur ETFs. Warum Wertpapierleihe dennoch immer nur im Zusammenhang mit ETFs als Risiko thematisiert wird, dürfte auf clevere Public Relations der aktiven Asset-Management-Branche zurückzuführen sein (siehe Eingangszitate).

Auf ETF-Struktur-bezogene Argumente gehe ich hier aus Platzgründen nicht ein. Lediglich ein ETF-Strukturrisiko will ich hier kurz diskutieren: ETFs in “exotischen” Asset-Klassen sind oft liquider als die in diesen ETFs enthaltenen Assets. Das gilt z. B. für manche Hochzinsanleihenindizes, wenngleich kaum für normale Aktien-ETFs. “Liquider” heißt, der ETF wird häufiger getradet und hat engere (günstigere) Geld-Brief-Spannen als der Durchschnitt der jeweiligen ETF-Assets selbst. In einer Börsenkrise mit dann naturgemäß reduzierter oder austrocknender Liquidität kann dieser Sachverhalt in der Tat vorrübergehend zu einer extremen Ausweitung der Geld-Brief-Spannen von ETFs führen, Divergenzen zwischen ihrem Kurs und dem errechneten Net Asset Value bis hin zu ihrer kompletten Aussetzung vom Handel.

Ja und? Zum einen wird das in einer solchen Situation für die besagten exotischen “Underlyings” außerhalb der ETFs in ähnlicher Weise gelten und – noch wichtiger – dieses Phänomen betrifft auch konventionelle, aktive Investmentfonds, Immobilienfonds (die notorisch dafür sind), sogar Geldmarktfonds und letztlich die gesamte Verbriefungsindustrie (“Asset Backed Securities”) einschließlich deutscher Pfandbriefe. Der gigantische immobilienbezogene ABS-Markt (“CLOs” und “CDOs”) ging in der Krise 2008/2009 aus diesem Grund durch ein Nahtoderlebnis, von dem er sich bis zum heutigen Tage nicht völlig erholt hat. [3] Mit anderen Worten: Hier wird ETFs etwas vorgeworfen, was für mehr oder weniger alle kollektiven Investmentvehikel gilt und etwas, das vermutlich eine unvermeidliche Begleiterscheinung von Börsenkrisen ist.

Auf alle Fälle ist festzuhalten, dass seit der Markteinführung des ersten ETFs vor 24 Jahren in den USA meines Wissens kein Privatanleger weltweit aus der rechtlichen Konstruktion von ETFs heraus einen Schaden erlitten hat. Das schließt auch die oben genannten Sonderformen von ETFs ein. Hingegen haben Privatanleger in offenen Immobilienfonds, geschlossenen Fonds (Immobilien, erneuerbare Energien, Medien, Schiffe et cetera) und von Banken emittierten Zertifikaten unzählige Male schwere Verluste erlitten, die aus der rechtlichen Struktur dieser Produkte resultierten, nicht nur aus der wirtschaftlichen Downside des zugrundeliegenden Investments.

Die ETF-Struktur hat sich insbesondere in zwei extrem scharfen “Stresstests” bewährt – dem Dotcom-Crash (2000 bis 2002) und der großen Finanzkrise ab 2008.

Im Übrigen begehen ETF-Kritiker oft den grundsätzlichen Irrtum, ETFs als “neuartige” oder “einzigartige” Investmentvehikel zu betrachten. Wie oben angedeutet, ist der größte Teil der ETF-Struktur identisch mit derjenigen normaler, streng regulierter UCITS-Investmentfonds oder dem US-Äquivalent RIC-Fonds, deren rechtliches Grundgerüst über einen Zeitraum von 80 Jahren entwickelt und getestet wurde. ETFs in ihrer heutigen Form existieren seit 1993, also seit 24 Jahren. Aufgrund der Erfahrungen in den zwei großen Markt- und Börsenkrisen der vergangenen 17 Jahre wurde die ETF-Struktur in mehreren Details noch weiter verbessert, denn nichts Menschliches auf der Welt ist perfekt oder wird es je sein. Das gilt für jedes Finanzprodukt.

Kommen wir zu den interessanteren Kategorie-B-Argumenten. Sie postulieren eine Gefahr aus dem wachsenden Marktanteil von ETFs. Die Argumente der Kritiker lauten so: Aufgrund des seit einigen Jahren steigenden Marktanteils von ETFs – der Marktanteil wird von ETF-Kritikern für 2016/2017 oft mit 20% oder 25% beziffert – werde die volkswirtschaftliche Kapitalallokationsfunktion der Finanzmärkte geschwächt (siehe die Zitate am Anfang dieses Artikels). Ein Indexinvestment sei definitionsgemäß “blind”, denn der Investor versuche nicht, die guten Unternehmen durch Allokation von Kapital (Kauf) zu belohnen und die schlechten Unternehmen durch Entzug von Kapital (Verkauf) zu bestrafen.

Zu allererst muss man festhalten, dass der globale Marktanteil von passivem Investieren (ob mit traditionellen Indexfonds oder ETFs) nicht bei 20% oder 25% liegt, sondern bei wahrscheinlich unter einem Prozent – und das gut 40 Jahre nachdem der erste Indexfonds aufgelegt wurde. Warum die ETF-Kritiker bei Ihrer Marktanteilsschätzung so drastisch danebenliegen (genauer gesagt, danebenliegen wollen), habe ich in Kommer 2016 dargelegt (siehe Literatur am Ende dieses Textes).

Doch nicht nur die Marktanteilsschätzung der ETF-Kritiker ist inkorrekt, auch die inhaltliche Logik ihrer Argumente überzeugt nicht. Zunächst einmal gilt es festzustellen, dass Fondsmanager und andere aktive Anleger kollektiv nur wenig Einfluss auf die Allokation von Eigen- und Fremdkapital in einer Volkswirtschaft ausüben – wenig jedenfalls im Vergleich zu der Gruppe, die tatsächlich die Hände am Steuer der Kapitalallokation hat, nämlich die Käufer von Produkten und Dienstleistungen, also Konsumenten und Einkäufer in Unternehmen (wir alle). Jede Kaufentscheidung eines Konsumenten für ein Produkt – ob das ein Smartphone, eine Flugreise oder ein Haarschnitt ist – führt dem Produktanbieter Kapital, das heißt Geld in Form von Umsatz zu. Und jeder solche Kauf “bestraft” in gewisser Weise die Produktanbieter, die der Käufer mit seiner Kaufentscheidung übergangen hat.

Im Unterschied dazu führt ein Fondsmanager, der eine Aktie von einem anderen Anleger erwirbt oder der eine Aktie an einen anderen veräußert, dem betreffenden Unternehmen keinen einzigen Cent Kapital zu. Null. Niente. Das Unternehmen weiß noch nicht einmal, wer an diesem Trade beteiligt war, und noch weniger, welche Motivation hinter dem Trade steckte. Das jährliche Volumen von Aktien- und Anleihenneuemissionen, bei denen (aktive) Anleger einschließlich Fondsmanager einem Unternehmen tatsächlich ein bisschen Kapital injizieren, ist winzig im Vergleich zur Kapitalzuführung aus Güterumsätzen.

Apple wurde während der vergangenen 25 Jahre das nach Marktkapitalisierung größte Unternehmen der Welt, weil Millionen von Konsumenten und Einkäufern in Firmen über viele Jahre hinweg seine hochmargigen Produkte gekauft haben. Fondsmanager haben zu diesem grandiosen Aufstieg so gut wie nichts beigetragen. Sie traden die Apple-Aktie zwar jeden Tag hektisch untereinander hin und her, das hat aber keine nennenswerte Liquiditäts- oder Gewinnwirkung für den Technologiekonzern. Nokia, einst der unbestrittene globale Marktführer bei Handys, ist nicht deshalb im wirtschaftlichen Nirwana verschwunden, weil Fondsmanager irgendwann herausfanden, dass Nokia-Handys nichts taugten, sondern weil private Haushalte und Unternehmen ab 2008 sich jedes Jahr immer häufiger gegen Nokia-Handys entschieden.

Wenn Anleger einen vernachlässigbaren Einfluss auf die volkswirtschaftliche Kapitalallokation haben, dann fällt natürlich auch das Argument in sich zusammen, demzufolge Indexfonds deswegen kritikwürdig seien, weil sie nicht aktiv zur Kapitallokation beitrügen. Das tun aktiv gemanagte Fonds ebenso wenig.

Überdies hält ein Fondsmanager, der ein Wertpapier verkauft, dieses für hoch- oder überbewertet, während für den von ihm kaufenden Fondsmanager das Gegenteil gilt. Wäre das nicht so, gäbe es keinen Trade. Nicht nur führt dieses Hin-und-Her-Traden zwischen zwei aktiven Anlegern dem betreffenden Unternehmen kein Kapital zu, es findet darüber hinaus auch noch zwischen zwei Angehörigen der Aktivanlegergemeinde statt, die eine entgegengesetzte Bewertungsmeinung haben. Wenn Fondsmanager krampfhaft versuchen, ihren “wichtigen Beitrag” zur volkswirtschaftlichen Kapitalallokation herauszustellen, und ich mir gleichzeitig diesen Sachverhalt vergegenwärtige, kann ich einen gewissen Lachreiz nicht unterdrücken.

Noch skurriler hierbei ist, dass Fondsmanager, wie die empirische Finanzmarktforschung seit rund 50 Jahren tausende Male gezeigt hat, per saldo mehr renditeschädliche als renditeförderliche Entscheidungen treffen, z. B. weil sie mal wieder auf eine Verlierer-Aktie gewettet oder eine fatale Timing-Entscheidung getroffen haben. Wie kann sowas die volkswirtschaftliche Kapitalallokation fördern?

Wenn von den Großtaten der volkswirtschaftlichen Kapitalallokation von Fondsmanagern bzw. aktiven Anlegern im Allgemeinen die Rede ist, sollte auch nicht übersehen werden, dass der Sektor der nicht börsennotierten Unternehmen global vermutlich größer ist als der börsennotierte Sektor, der – kaum überraschend – in den Medien viel weniger prominent ist. (Zu den nicht börsennotierten Firmen gehören auch staatliche Unternehmen und Behörden.) Bei dieser Kapitalallokationsveranstaltung fehlen die Damen und Herren Fondsmanager sowieso.

Wie also jemand ernsthaft behaupten kann, dass aktive Investoren und darunter speziell Fondsmanager einen nennenswerten Einfluss auf die Kapitalallokation in einer Volkswirtschaft haben, ist mir ein Rätsel.

Ein anderes von ETF-Gegnern im Zusammenhang mit dem Kapitalallokationsgesichtspunkt vorgebrachtes Argument besteht in der These, ETF-Anleger oder Indexfondsanleger allgemein seien “Trittbrettfahrer” der aktiven Anleger. Letztere würden durch ihr mühevolles und teures Wertpapier-Research zum Nutzen der ganzen Volkswirtschaft herausfinden, welche Wertpapiere zu kaufen (sprich, welche Unternehmen zu belohnen) seien und welche durch Nichtkauf abgestraft werden müssten. Hingegen würden Indexfondsanleger lediglich als Free Rider oder Parasiten an den Früchten dieses Bewertungs- und Preisentdeckungsprozesses kostenlos partizipieren, aber nichts selbst dazu beitragen. Es sei überdies logisch, dass sich nicht alle Marktteilnehmer so wie Indexanleger verhalten könnten, ohne die Kapitalmärkte ihrer Grundfunktion zu berauben.

Auch diese Argumente hinken schlimmer als der einbeinige Pirat. Weiter oben haben wir bereits gesehen, dass Fondsmanager und andere aktive Anleger – anders als Konsumenten – von vorneherein wenig zur volkswirtschaftlichen Kapitalallokation beitragen. Auch Legionen von Unternehmens- und Marktanalysen ändern das nicht. Wertpapier-Research und die daraus resultierenden Trading-Entscheidungen aktiver Investoren führen der realen Wirtschaft nun einmal weder Kapital zu, noch entziehen sie es ihr. Gewiss, steigende oder fallende Wertpapierkurse wirken als Signal für Marktteilnehmer, aber ihre kapitalallokative Bedeutung ist im Vergleich zu den Cash-Flow-Effekten in der Realwirtschaft marginal.

Ferner trifft das Trittbrettfahrerargument auch auf Tausende andere Märkte zu, wo offenbar niemand ein Problem mit ihm hat. Illustrieren wir das am Gebrauchtwagenmarkt. Der Autor dieses Artikels ist 54 Jahre alt, hat seit Erwerb seines Führerscheins vor 36 Jahren neun Automobile gekauft und acht wiederverkauft oder auf ihrer letzten Fahrt zum Schrotthändler begleitet. Alle neun gekauften Automobile waren Gebrauchtwagen, da er neue Automobile für ein tendenziell schlechtes Geschäft hält. Niemand bezweifelt, dass der Gebrauchtwagenmarkt nur existieren kann, weil es einen Neuwagenmarkt gibt. Sind Gebrauchtwagenkäufer deswegen Trittbrettfahrer der moralisch oder wirtschaftlich wertvolleren Neuwagenkäufer?

Die Absurdität dieser Logik ist mit Händen zu greifen. Für den Gebrauchtwagenmarkt und sein Verhältnis zum Neuwagenmarkt gilt genau dasselbe wie für die beiden Gegenpole aktives versus passives Investieren. Erstens kann man sie gar nicht sauber trennen, da zwischen ihnen eine breite Grauzone existiert. [4] Zweitens, wenn das eine Marktsegment stärker wächst als das andere, dann kommt ein Feedback-Loop in Gange, der ein dynamisches Gleichgewicht produziert.

In der Biologie nennt man das kybernetischen Regelkreis. Sollte es in den Kapitalmärkten 2050 tatsächlich einmal einen Passiv-Marktanteil von mehr als drei Vierteln geben – was der Altersvorsorge von hunderten Millionen Menschen zu wünschen wäre – dann würde auf dem Weg dorthin allmählich und ganz automatisch aktives Investieren wieder attraktiver werden. Bis dahin ist passives Investieren aus rationaler Sicht die überlegene Alternative und so lange lohnt es für Anleger, damit fortzufahren. Aber auch in dieser neuen Welt würde weiterhin die “Arithmetik des aktiven Investierens” gelten (Sharpe 1991), und die garantiert mit mathematischer Notwendigkeit, dass die Gruppe der passiven Anleger kollektiv eine bessere Rendite erzielt als die Gruppe der aktiven Anleger.

Das philosophische Totschlagargument “wenn sich alle so und so verhalten, würde so und so nicht mehr funktionieren” ist ein uralter Rhetoriktrick, den linke und rechte Sozialingenieure schon immer gerne angewendet haben. Sein Erkenntniswert tendiert gegen null. Wenn alle 82 Millionen Deutsche ab morgen ausschließlich bei Aldi einkauften, dann käme es in den dortigen Geschäften zu Lieferengpässen, Massenpaniken und mehrere hunderttausend Beschäftigte bei der Konkurrenz verlören binnen Wochen ihren Arbeitsplatz, was nicht einmal Angela Merkel verhindern könnte.

Oh je! Wenn alle 17 Millionen Holländer im nächsten Winter im Vorarlberg Skifahren wollten, ginge auf deutschen Autobahnen drei Monate lange gar nichts mehr und die Pisten in Lech-Zürs müssten aus Sicherheits- und Naturschutzgründen für alle gesperrt werden. Wenn künftig alle deutschen Frauen nur noch rothaarige Männer mit grünen Augen attraktiv fänden, dann würde die Geburtenrate in diesem Land von 1,3 auf 0,01 sinken und Deutschland hätte sich tatsächlich abgeschafft. Es ließe sich eine unendliche Kette weiterer absurder Beispiele formulieren. Fakt ist: Im menschlichen Dasein sind viele, vielleicht die meisten Aktivitäten und Verhaltensweisen nur deshalb möglich, weil eben nicht alle Exemplare der Spezies Homo Sapiens Sapiens sie gleichzeitig praktizieren – eine triviale Feststellung und – ja – sie gilt auch für passives Investieren.

Eine Variante der Kategorie-B-Argumente behauptet, die drei größten ETF-Anbieter (BlackRock, Vanguard und State Street) hätten gemeinsam zu viel Marktmacht und/oder ihr möglicher Konkurs stelle ein systemisches Risiko für die globale Finanzarchitektur dar. Beide Behauptungen stehen auf staksigen Beinchen. Das Marktmacht-Argument bezieht sich auf die angeblich gemeinsame oder “gleichgerichtete” Aktionärskontrolle, die die drei Konkurrenten auf einzelne börsennotierte Gesellschaften ausüben, wenn man ihre Beteiligungsquoten zusammenrechnet (gepoolt oft bis zu 10% und in seltenen Fällen bis 25% und mehr). [5] Dieses Argument erscheint regelrecht bizarr. Zum einen führen die drei Wettbewerber seit Jahren einen erbitterten, für uns alle jedoch erfreulichen Preiskrieg, der zu immer niedrigeren Kosten von Indexfonds (inkl. ETFs) geführt hat. Zum anderen könnte man genauso gut die Beteiligungsquoten anderer willkürlicher Aggregate von Aktionären an börsennotierten Unternehmen aufaddieren und eine Gefahr aus dieser Summe konstruieren, z. B. alle Aktionäre, die älter als 60 Jahre sind, alle Aktionäre aus einer bestimmten Branche, alle Großaktionäre oder alle deutschen Aktionäre.

Kurioserweise wurde BlackRock, Vanguard und Co bis vor einiger Zeit von Indexfondskritikern vorgeworfen, ihre Stimmrechte auf den jährlichen Aktionärsversammlungen nicht auszuüben, weil sie ja “passive” Asset Manager seien und daher kein Interesse am Einzelschicksal der Aktien in ihren Indexfonds hätten. Zum einen ist diese Nichtausübung unbelegter Nonsens und zum anderen mutet der Widerspruch zum neuerdings erhobenen Marktmachtargument besonders drollig an.

Das Zusammenbruchargument (Systemrisiko) läuft deswegen ins Leere, weil es Asset Manager (Fondsgesellschaften) mit Banken verwechselt, also den fundamentalen rechtlich-ökonomischen Unterschied zwischen Großbanken – die in der Tat Systemrisiken darstellen können – und Asset Managern durcheinanderbringt. Asset Manager können strukturell kein Systemrisiko – jedenfalls, wie es hier gemeint ist – repräsentieren. BlackRock würde selbst durch einen 80%-igen Börsen-Crash wie 1929 vermutlich nicht in Gefahr geraten, weil diese Verluste nicht BlackRock-Geld (die BlackRock-Bilanz), sondern Kundengelder beträfen. BlackRock verwahrt diese Kundengelder nur und vereinnahmt daraus eine Verwaltungsgebühr. BlackRock würde im Börsen-Crash-Fall lediglich weniger verdienen. [6] Außerdem nimmt das Unternehmen, im Unterschied zu Banken, keine Kundeneinlagen und vergibt (wie Asset Manager im Allgemeinen) keine Kredite, die in einer Krise ausfallen könnten oder die ein krisengeschüttelter Kreditgeber nicht mehr verlängern könnte. Ein Aufbrechen von BlackRock in zehn Baby-BlackRocks würde ein Systemrisiko eliminieren, das es gar nicht gibt.

Fazit: Der globale Marktanteil passiven Investierens liegt heute wohl unter einem Prozent; man muss ihn nur richtig messen oder messen wollen. Die Vertreter des aktiven Asset Management-Lagers betrachten sich als die Heroen der Kapitalmärkte, die mit ihrem Know-How und unermüdlichem Einsatz täglich neu die optimale Kapitalallokation in der Volkswirtschaft für das Gemeinwohl sicherstellen – eine aberwitzige Selbstüberschätzung. Die moralinsäuerliche Trittbrettfahrerlogik der ETF-Kritiker ist ein ebenso armseliges Argument, dito der “es-können-niemals-alle-passiv-investieren”-Unsinn. Insgesamt sollte die Schwachbrüstigkeit der hier diskutierten ETF-Kritik nicht wundern: Schließlich wird sie fast ausnahmslos von Personen vorgebracht, denen es nicht um die Sache geht, sondern darum, zu verhindern, dass das weltweit noch immer kleine Pflänzlein Passives Investieren den üppigen Gebührenkuchen der Finanzbranche in Zukunft etwas schrumpfen lassen könnte.

[1] Einen Überblick der eher unaufgeregten Forschung hierzu findet sich bei Lopez u.a. 2016.
[2] Im amerikanischen ETF-Markt, der deutlich größer ist als der europäische, sind Swap-ETFs praktisch nicht existent, weil sie dort nicht für den Vertrieb an Privatanleger zugelassen sind.
[3] Der Hollywood Film “The Big Short” thematisiert dieses Desaster auf unterhaltsame Weise.
[4] Auf ETFs bezogen: Ein Anleger, der Market Timing oder Sector Picking mit ETFs praktiziert, ist ein aktiver Anleger, auch wenn er dafür ein passives Produkt nutzt. Extreme Formen davon sind Day Trading und High Frequency Trading (computergestütztes Trading in Sekundenbruchteilintervallen). Letzteres wird von spezialisierten Hedge-Fonds mit Einzelwertpapieren, aber besonders gerne mit ETFs praktiziert. Wer diese hyperaktive Spekulation mit “passiv” Investieren in einen Topf schmeißt, dem geht es nicht um die Sache, sondern um seine Agenda.
[5] Fondsgesellschaften üben bei UCITS-Fonds (auch Indexfonds) nach deutschem und internationalem Recht die Stimmrechte aus Aktien treuhänderisch für die eigentlichen Aktieneigentümer (die Anleger) aus.
[6] Dementsprechend überstanden die drei ETF-Anbieter sowohl die Dotcom-Krise als auch die große Finanzkrise nicht nur ohne ernsthafte Schwierigkeiten, sondern wuchsen in und nach den beiden Krisen stärker als der Rest der Branche, weil traditionelle, aktive Asset Manager in beiden Fällen einmal mehr ihr Versprechen gebrochen hatten, Kunden vor einem starken Markteinbruch zu schützen.
Der Autor: Gerd Kommer ist Geschäftsführer der Gerd Kommer Invest GmbH, München. Das Unternehmen berät vermögende Privatkunden, Family Offices und Stiftungen. Kommer war 24 Jahre lang bei europäischen Großbanken und Asset Managern tätig, zuletzt in leitender Position. Er hat mehrere Bücher zu Investmentthemen veröffentlicht.

Die Übernahme des Beitrags erfolgte mit freundlicher Genehmigung von Gerd Kommer Invest

Von: Gerd Kommer
Quelle: Das Investment

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