SJB | Korschenbroich, 17.07.2014. Brasiliens Niederlage bei der Weltmeisterschaft 2014 wirkt sich nicht nur negativ auf die Stimmung, sondern auch auf die Wirtschaft im Land aus. Wolf Rütger Teuscher, Senior-Volkswirt bei der Deutschen Zentral-Genossenschaftsbank, erläutert, warum die WM-Enttäuschung die schlechte wirtschaftliche Lage des Landes widerspiegelt.
Brasilien muss nach der Fußball-Weltmeisterschaft eine Riesenenttäuschung verkraften: Seine Selecao hat nicht wie so sehnlichst erhofft im eigenen Land den Titel geholt. Vielmehr muss das fußballbegeisterte Land nach der hohen Niederlage im Halbfinale nun totalen Frust und grenzenlose Enttäuschung verkraften. Als wäre der Fußball ein Spiegel für die wirtschaftliche Verfassung des Landes, gab es zuletzt auch über die Konjunktur und das Wachstum Brasiliens nur ernüchterndes zu berichten.
Im Jahreseingangsquartal 2014 hatte die Gesamtwirtschaft mit einem Zuwachs von plus 0,2 Prozent zum Vorquartal kaum mehr als stagniert, obwohl viel Bautätigkeit stattgefunden hatte, um die Fußballstadien und andere Großbaustellen noch rechtzeitig fertigzustellen. Das zweite Quartal dürfte keine nennenswerte Konjunkturbeschleunigung gebracht haben, zumal eine langanhaltende Hitze- und Dürreperiode die Agrarwirtschaft belastet hat und es zeitweise Knappheiten bei der Energieversorgung gab.
Auch für das gerade begonnene zweite Halbjahr ist den jüngsten Wirtschaftsdaten zufolge bestenfalls auf eine verhaltene Wirtschaftsaktivität zu schließen. Die Stimmung in der Wirtschaft ist schlecht. Die Industrieproduktion (mit Bergbau und Ressourcensektor) etwa tendierte schon in den Frühjahrsmonaten deutlich negativ: Im April und Mai lag sie im Durchschnitt um minus 4 ½ Prozent unter dem Vorjahr.
Beteiligt an diesem Ergebnis ist vor allem die Automobilproduktion, die im zweiten Quartal rund minus 21 Prozent unter ihrem Vorjahresniveau lag. Die Autoindustrie spürt den Nachfrageausfall aus dem krisengeschüttelten Nachbarland Argentinien, aber auch in Brasilien selbst ist die Nachfrage derzeit schwach.
Der fiskal- und geldpolitische Spielraum zum Gegensteuern ist begrenzt. Denn einerseits ist das Budgetdefizit des Staates unter anderem wegen der hohen Ausgaben für die Fußball-WM stark angeschwollen. Auf der anderen Seite zwingen die nach wie vor virulente Inflation sowie der volatile Kapitalmarkt zu restriktiver Geldpolitik.
Sentimentindikatoren nach unten gerichtet
Brasiliens Unternehmen und Konsumenten befinden sich dabei schon seit geraumer Zeit in einem Stimmungstief, das gegen eine schnelle und nachhaltige Konjunkturerholung spricht. Dies gilt nun erst Recht angesichts der kollektiven „Schockstarre“, in die das Land nach der traumatischen Niederlage seiner Fußball-Nationalelf im WM-Halbfinale gefallen ist.
Dabei notiert der viel beachtete Einkaufsmanager-Index der privaten Umfragefirma Markit, der die Einschätzungen zur Geschäftslage und den Absatzerwartungen der Industrie erfasst, bereits seit April unterhalb der neutralen Marke von 50 Punkten. Bei dieser Linie von 50 gleichen sich die skeptischen und positiven Antworten genau aus, was einer stagnierenden realen Wirtschaftslage entspricht. Der Composite PMI, der mehrere Wirtschaftssektoren zu einem einheitlichen Einkaufsmanagerindex zusammenfasst, notierte zuletzt etwas höher, weil er von den etwas günstigeren Umfragewerten im Servicesektor nach oben gezogen wird. Dieser hat nämlich vor und während des WM-Turniers von der kräftigeren Nachfrage etwa nach Tourismus- und Transportleistungen profitiert und ist im Juni leicht gestiegen auf 51,4 Punkte – den höchsten Wert in diesem Jahr.
Gleichwohl ist davon auszugehen, dass nun nach dem Ende der WM, wenn die Fußballfans und Besucher aus aller Welt wieder zuhause sind, sowohl das Hotel-, Gaststätten- und Tourismusgewerbe und viele andere Servicebereiche sich in ihren Umsatzerwartungen wieder normalisieren, das heißt im Zweifel an Dynamik einbüßen.
Dabei hat sich parallel zu der skeptischen Stimmungstendenz bei den Unternehmen zuletzt auch das Verbrauchervertrauen abgeschwächt. Lange wurde das brasilianische Wachstum von einer dynamischen Konsumnachfrage getragen. Inzwischen haben aber die Verbraucher einige Erschwernisse zu tragen, die das Konsumklima dämpfen.
Zuvorderst zu nennen ist die hartnäckig hohe Inflation im Lande, die sich im Juni auf 6,5 Prozent belief. Bereits seit 2012 notiert sie um 6 Prozent und übersteigt damit die nominalen Lohnzuwächse. Reale Kaufkraftverluste sind die Folge. Die Marke von 6 Prozent sieht die Notenbank als Obergrenze für ihren Zielkorridor der Inflation (4 Prozent plus/ minus 2 Prozent).
Das Erreichen dieser Marke hat ihr dann auch die Rechtfertigung für die neun Zinsschritte seit April 2013 gegeben. Der Leitzins („Selic Rate“) ist dabei um 375 Basispunkte erhöht worden, zuletzt am 2. April 2014 auf 11,0 Prozent.
Dieses Jahr könnte die Notenbank noch einmal an der Zinsschraube drehen, was den Konsum zusätzlich belasten dürfte. Bereits der bisherige Zinserhöhungszyklus hat die Kreditverfügbarkeit und die Kauflaune bei den Verbrauchern stark eingetrübt.
Ihre Zins- und Tilgungsverpflichtungen sind enorm gestiegen, nachdem der hohe kreditfinanzierte Konsum der vergangenen Jahre ihre Verschuldungsquote, gemessen als Anteil an ihren nominalen Einkommen, inzwischen auf 43 Prozent erhöht hat. Diese Quote hat sich damit seit dem Jahr 2005 mehr als verdoppelt. Kritisch für verschuldete Privathaushalte ist, dass die Sollzinsen etwa auf Kreditkarten in Brasilien exorbitant hoch sind. Sie haben zuletzt die sagenhafte Höhe von durchschnittlich 135 Prozent pro Jahr erreicht.
Der zu erwartende nächste Zinsschritt der Notenbank wird aber wohl erst nach den Parlaments- und Präsidentenwahlen im Oktober kommen. Staatspräsidentin Dilma Rousseff hofft dann auf ihre Wiederwahl, die derzeit aber alles andere als sicher scheint. Denn der für das Land nun so enttäuschende Ausgang des Fußballturniers macht die Auflösung der Stimmungskrise nicht einfacher.
Eine immer selbstbewusster gewordene Mittelschicht fragt, ob sich der hohe Aufwand des Staates für die Stadien und die Infrastrukturmaßnahmen zur WM von rund 12 Milliarden US-Dollar überhaupt gelohnt hat. Auf jeden Fall gingen diese Ausgaben zu Lasten anderer Projekte, die in den Augen vieler Brasilianer mehr Nutzen gestiftet hätten als die teure WM.
Jene unter ihnen, die im letzten und auch in diesem Jahr protestierend auf die Straße gegangen sind, denken da etwa an das mangelhafte Nahverkehrsnetz, die störungsanfällige Energieversorgung, Ausfälle an Schulen und die Überlastungen im Gesundheitssystem. Jetzt, wo der WM-Trubel abebbt, richtet sich der Blick der normalen Bürger rasch wieder auf die üblichen Alltagssorgen und jene Probleme, für die Lösungen noch ausstehen.
Ein Sentiment getriebener Aufschwung in Brasilien erscheint vor diesem Hintergrund und erst Recht nach dem verpassten Titelgewinn kaum möglich. Im Gegenteil könnte die Protestlaune vor den Wahlen im Oktober wieder ansteigen, um die Politiker endlich zu konstruktiven Lösungen aufzufordern.
Trendwachstum war zuletzt rückläufig
Mit der Fußball-WM hat die Welt wie mit einem Brennglas auf Brasilien geschaut. Im Vorfeld und während des fünfwöchigen Großereignisses sind erneut und sehr plastisch zahlreiche Engpassfaktoren deutlich geworden, die die wirtschaftliche Dynamik des Landes in den letzten Jahren immer wieder abgebremst haben.
Nach wie vor gehört das Land zu den Schwellenländern, denen überdurchschnittlich hohe Wachstumschancen zugemessen werden können. Vom Internationalen Währungsfond wird Brasiliens Potenzialwachstumsrate derzeit immerhin auf rund 3 ½ Prozent geschätzt. Diese Rate wäre also langfristig und stetig realisierbar, ohne dass dadurch die Inflation sich beschleunigen müsste.
Ein Blick auf Brasiliens realisiertes Wachstum in den letzten 25 Jahren macht zweierlei deutlich: Auf der einen Seite war das durchschnittliche Wachstum zeitweise durchaus höher als in aufstrebenden Ländern, an denen Brasilien sich misst (den sogenannte „Peers“). So hat das Land von 2001 bis 2010 mit 3 ¾ Prozent jahresdurchschnittlichem Wachstum sein Wachstumspotenzial im Ganzen ausgeschöpft und dabei auch seinen Konkurrenten Mexiko zeitweise überflügelt.
Auch im Vergleich zur Wachstumsrate etwa Südafrikas war die jährliche Zuwachsrate in Brasilen bis vor kurzem höher. Andererseits verläuft jedoch seit 2011 die Wachstumsdynamik in Brasilien zunehmend gedämpfter und das Wachstumspotenzial wird nicht mehr ausgeschöpft. Dabei ist das brasilianische Trendwachstum vor allem gegenüber anderen lateinamerikanischen Schwellenländern deutlich gesunken. Mexiko und Chile etwa konnten demgegenüber ihr Wachstum sogar beschleunigen.
Unter den so genannten Brics-Ländern, also den größeren Schwellenländern, hat Brasilien derzeit den schwächsten Wachstumstrend. Dies ist längerfristig deshalb bedeutsam, als Brasilien einen Teil seiner so genannten „demographischen Dividende“ verspielen könnte, wenn das gesamtwirtschaftliche Wachstum weiter relativ zu niedrig bleibt: Noch ist das brasilianische Arbeitskräftereservoir recht jung und damit auch die „Alterspyramide“ geprägt von der Überzahl der jungen Generation.
Relativ viele junge Arbeitskräfte stützen mit ihren Einkommen und Konsumausgaben das gesamtwirtschaftliche Wachstum und bauen einen Kapitalstock für die Sozial -und Rentenversicherung auf. Aber auch in Brasilien macht sich inzwischen ein Geburtenrückgang bemerkbar.
Zur Finanzierung der künftigen Alterslasten kann also nicht mehr unbedingt darauf vertraut werden, dass sich das gesamtwirtschaftliche und beitragspflichtige Beschäftigungsvolumen allein aus demographischen Gründen ständig erweitert. Der einsetzende demographische Umschwung ist gerade dabei, die potenzielle Wachstumsrate des Landes etwas nach unten zu korrigieren.
Wachstumsbremsend ist auch, dass die verfügbaren Arbeitskräfte in vielen Fällen besser ausgebildet sein könnten. Bessere Fremdsprachenkenntnisse (Englisch) sind vonnöten. Andere Länder wie etwa Korea haben hier durch intensive Investitionen in das Bildungssystem später enorme Wachstumsgewinne realisieren können. In Brasilien besteht in dieser Hinsicht ein deutlicher Nachholbedarf.
Auch durch die Tatsache, dass die Vorteile aus der Zuwanderung von besonders qualifizierten Arbeitskräften zu wenig genutzt werden, verschenkt Brasilien kostbare Wachstumspunkte. Dabei hat das Land durchaus eine Reihe von zukunftsträchtigen Industrie-Clustern, die ein Wachstum stützen könnten, das weniger als bisher auf den großen Rohstoffund Agrarsektor baut und mehr inländisches „Value-added“ erbringt.
Produktivitätsnachteile in vielen Bereichen der Wirtschaft
Voraussetzung dafür, dass Brasilien in Zukunft eine höhere Dynamik und Nachhaltigkeit beim industriellen Wachstum erzielen kann und auch der Dienstleistungssektor höhere Wachstumsbeiträge erbringt, sind Produktivitätsfortschritte. Hier hat Brasilien in den vergangenen Dekaden leider keine signifikanten Fortschritte gemacht.
Im Gegenteil, praktisch hat der Produktivitätstrend in den letzten zehn Jahren stagniert. Dies liegt vor allem an der im internationalen Vergleich eher mäßigen Investitionsquote: Zwischen den Jahren 2000 und 2012 machten die gesamtwirtschaftlichen Investitionen im Durchschnitt nur rund 18 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus. Dies war deutlich weniger als etwa in Chile, Mexiko oder Indien und weniger als die Hälfte der vergleichbaren Quote in China. Diese betrug im Jahr 2013 immerhin 48 Prozent.
Produktivitätssteigernder Fortschritt geht in der Regel mit neuen Technologien und Kapitalinvestitionen einher. Diese waren in Brasilien in den letzten 15 Jahren deutlich unterrepräsentiert. Zu den dahinter stehenden Gründe zählen unter anderem:
(1) In Brasilien ist aufgrund des dortigen Rohstoffreichtums und neuer Öl- und Erdgasfunde vor der Küste eine zu starke Betonung des Ressourcensektors festzustellen, der zu Lasten von produktivitätssteigernden Investitionen in anderen Industriesektoren geht („Dutch desease“).
Im Extremfall kann ein solch übergroßer Ressourcensektor sogar regelrecht zu einer De-Industrialisierung führen. Dies ist in Brasilien zwar nicht der Fall, aber immerhin ist für das Land in den letzten 30 Jahren eine gewisse Bedeutungseinbuße des klassischen Industriesektors festzustellen: Betrug sein Anteil (mit Bau) am brasilianischen BIP dem IWF zufolge 1985 noch 45,3 Prozent, waren es 2012 nur noch 26,3 Prozent.
Zum Vergleich: In Deutschland hat das Produzierende Gewerbe (mit Baugewerbe) eine weitaus größere Bedeutung (30,5 Prozent), ebenso in den anderen wichtigen Schwellenländern wie China (45,3 Prozent) oder in Chile (35,5 Prozent).
2) Eine Erklärung für den technologischen Nachteil Brasiliens liefert auch die Tradition der Importsubstitutionsstrategie, die seit den 1950er Jahren als Leitschnur für den nationalen Entwicklungsweg dominiert hat: Über einen exzessiven Importschutz wird die inländische Industrie zwar vor Auslandskonkurrenz abgeschirmt und kann sich, so die Intention, freier und ungestörter entfalten.
Im Ergebnis hat diese Strategie aber vor allem zur Folge, dass das inländische Preisniveau erhöht wird und wichtige Konsum- und Investitionsgüter am Ende nicht in der gewünschten Menge oder Qualität verfügbar sind. Zudem verliert die inländische Industrie wegen der mangelnden Vernetzung mit ausländischen Partnern auch an Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten.
Tendenziell werden zu viele unproduktive Produktionsweisen im Inland konserviert, es gibt Fehlanreize bei Investitionsentscheidungen, und es wird auch das Exportwachstum beschnitten. Das technologische Niveau für den Wettbewerb auf dem Weltmarkt ist einfach auf vielen Feldern zu niedrig, oder die industriellen Güter werden relativ zu teuer produziert, um exportfähig zu sein.
(3) Direktinvestitionen aus dem Ausland finden nicht statt, um Brasilien als attraktiven Produktionsstandort für Exporte in Drittländer zu nutzen, sondern um Marktanteile auf dem zwar großen, aber begrenzten und abgeschotteten Inlandsmarkt zu gewinnen.
Damit wird auch der Technologietransfer aus dem Ausland nur unvollkommen als Produktivitätsquelle genutzt. Das Land schnürt sich indirekt vom technologischen Fortschritt aus dem Ausland ab, der durch alternative Produktionsmethoden aus dem Ausland ins Inland hineingetragen werden könnte.
(4) Das mangelnde Ausmaß von an sich lohnenswerten Erweiterungsinvestitionen führt dazu, dass die Industrie derzeit tendenziell im oberen Auslastungsbereich produziert. Dort wo Ersatzinvestitionen für ausgediente oder technologisch nicht mehr wettbewerbsfähige Kapitalgüter ausgeblieben sind, hat sich sogar der effektive Kapitalstock reduziert, was zu Überauslastungen in der betreffenden Industrie und zu angebotsseitig verursachtem Inflationsdruck führt.
(5) Eine überbordende Bürokratie und ein intransparentes Steuersystem sorgen dafür, dass Investitionen ausbleiben. Im so genannten „Ease of Doing Business Index“ der Weltbank, der unter 189 Ländern die allgemeinen Geschäfts- und Investitionsbedingungen der Attraktivität nach auflistet, landet Brasilien nur auf Platz 116.
Bewertet man hier nur das Steuersystem (Erhebungsaufwand und -prozeduren, Steuerlast), so findet sich das Land noch weiter abgeschlagen auf Platz 159 wieder.
(6) Um private Investitionsprojekte zu fördern, den gesamtwirtschaftlichen Kapitalstock zu erweitern und so das gesamtwirtschaftliche Beschäftigungs- und Wachstumstempo anzutreiben, muss auch das notwendige Maß an Infrastruktur gegeben sein.
Dies ist in Brasilien nicht der Fall. Der Anteil der gesamtstaatlichen Investitionen in die nationalen Infrastrukturen hat sich seit den 1970er Jahren mehr als halbiert auf nur noch rund 2 Prozent. Der Anteil der Ausgaben der Verkehrsinfrastruktur betrug zuletzt klar unter 1 Prozent des BIP. Der Unmut und die Unruhe in der Bevölkerung hierüber sind in den letzten zwei Jahren evident geworden.
Wirtschaftspolitischer Handlungsdruck wächst
Brasilien hat zwar während des letzten Rohstoffbooms (2008-2012) stark von der hohen internationalen Nachfrage nach seinen Rohstoffen profitiert. Der Rohstoffexport verläuft inzwischen aber deutlich gedämpfter. Der Leistungsbilanzsaldo ist negativ und hat sich in den letzten zwei Jahren beständig verschlechtert.
Dabei hat sich der Rohölpreis von seinen letzten Hochs inzwischen deutlich nach unten abgesetzt. Solange aber der Rohstoffsektor und auch die Erzeugung von Agrargrundstoffen weiter eine so übermäßige Bedeutung für Brasiliens Wirtschaft haben und mit knapp 50 Prozent (2013) die Exportbilanz dominieren, bleibt das Land auch besonders anfällig für Krisen am Weltmarkt und „verschenkt“ Wertschöpfungsgewinne, die durch die industrielle Weiterverarbeitung seiner Rohstoffe im Inland entstehen könnten.
Für ein stärker auf Nachhaltigkeit ausgerichtetes Wirtschaftswachstum in Brasilien wäre es vorteilhaft, wenn die Regierung sich bemühte, diese Abhängigkeit vom Rohstoffsektor und seinen Exporten zu verringern, zu Gunsten einer stärker diversifizierten Exportgüterstruktur mit größeren Anteilen verarbeiteter Industriegüter. Brasiliens Güterexporte haben derzeit einen zu geringen inländischen Wertschöpfungsanteil.
Auch der Brasiliens Exporte von Serviceleistungen am BIP sind mit unter 2 Prozent deutlich geringer als die anderer Schwellenländer und weniger als halb so hoch wie im Durchschnitt aller übrigen latein-amerikanischen Länder. Dabei hätte das Land etwa in der Tourismusindustrie allerbeste Wachstumschancen. Um den beschriebenen Zielen näher zu kommen, sind einige Voraussetzungen zu erfüllen:
Zunächst braucht es Korrekturen im Regulierungs- und Steuersystem und besonders bei der Bürokratie. In Umfragen benennt die überwiegende Mehrheit der brasilianischen Unternehmen die Bürokratie und den damit zusammenhängenden Kosten- und Zeitaufwand als entscheidendes Exporthemmnis.
Für kleine und mittelgroße Firmen ist dieser Aufwand zu hoch, um etwaige Exporttätigkeiten aufzunehmen oder bestehende Aktivitäten hier nennenswert auszuweiten.
Vorrangig sind auch die Schaffung und Erhaltung eines günstigen Investitionsklimas und verstärkte Anstrengungen bei der Modernisierung und Erweiterungen der Infrastrukturen, vor allem im Verkehrssystem, im Schul- und Ausbildungssystem und im Gesundheitswesen.
Vor allem die mangelhaften Verkehrswege haben zur Folge, dass die inländischen Unternehmen unbotmäßigen Produktionskostennachteile zu tragen haben. Hier böten sich auch verstärkt die Zusammenarbeit von staatlichen und privaten Trägern ab, also Public-Private-Partnerships.
Eine offenere und flexiblere Handelspolitik ist vonnöten: Der Produktivitätsnachteil, der aus der Abschirmung des Inlandsmarktes vor Auslandskonkurrenz in Form hoher Einfuhrzölle nicht nur für Konsumgüter, sondern auch für Investitionsgüter herrührt, bedeutet unnötige Wohlfahrtsverluste. Das Land hat sich so in seiner Produktivkraftentfaltung hier von anderen Schwellenländern inzwischen deutlich abhängen lassen.
Selbst das prominente Beispiel der brasilianischen Autoindustrie, die durch extrem hohe Einfuhrzölle geschützt wird (35-50 Prozent plus örtliche Steuern), ist in den vergangenen Jahren im Produktivitätsvergleich zurück gefallen.
Mexiko etwa, das eine offenere Handelspolitik verfolgt hat, verfügt im Auto- und Fahrzeugbau inzwischen über eine rund doppelt so hohe Produktivität wie Brasilien, obwohl Brasilien in diesem Sektor eine deutlich längere Tradition und Erfahrung aufbieten kann.
Die Rückführung von tarifären und nichttarifären Handelshemmnissen und damit die Öffnung für mehr Wettbewerb, Innovation und technologischen Austausch dürfte für Brasiliens Industrie langfristig deutlich mehr Vorteile als Nachteile bringen. Die Regierung hat zwar in den letzten Jahren mehrfach die Einfuhrzölle für bestimmte Investitionsgüter gesenkt.
Solange der reguläre Zollsatz aber immer nur temporär ermäßigt wird, kann dies keine nachhaltig positiven Wirkungen entfalten. Jene Unternehmen, die gerade wichtige Vorleistungen aus dem Ausland benötigen, profitieren zwar. Längerfristig kann von solch einer „diskretionären“ und kurzatmigen Zollpolitik aber keine Planungssicherheit für investitionswillige Unternehmen entstehen.
Nächste Präsidentschaftswahl als Wegscheide
Im Oktober wählt in Brasilien die nächsten Parlaments und Präsidentenwahlen. Grundlegende wirtschaftspolitische Neuausrichtungen sind bis dahin nicht mehr zu erwarten. Es bleibt abzuwarten, ob Dilma Rousseff im Amt bleiben wird. Der Verdruss über ihre wirtschaftspolitische Bilanz im Volke ist durchaus spürbar.
Und schon folgt nach dem durchwachsenen Erlebnis der Fußball-WM in zwei Jahren das nächste Großereignis, bei dem sich Brasilien nicht (wieder) blamieren will: Die Sommerolympiade in Rio de Janeiro. Rousseff hat bei den Protesten letztes und dieses Jahr durchaus klug reagiert, Fehler eingeräumt und neue Anstrengungen für eine Verbesserung der Wirtschaftspolitik angekündigt.
Grundsätzlich verfolgt sie dabei ein Konzept der „sozialen Inklusion“, was weiter hohe Sozialausgaben und damit ein begrenztes staatliches Investitionsbudget impliziert. Die eher konservative Opposition hat aber von den zuletzt sichtbar gewordenen Defiziten im Wirtschaftssystem profitiert und will diesen mit angebotsseitigen Reformen begegnen. Dieser Wahltermin wird wirklich spannend!
Wolf Rütger Teuscher
Quelle: DAS INVESTMENT.